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Das steckt hinter deinem Wunsch, dich jetzt sofort tätowieren lassen zu wollen

In der ersten Woche ihrer Quarantäne stellte Tammy Hong fest, dass sie genau an diesem Punkt schon mal gewesen war. Nicht im Sinne davon, durch eine weltweite Pandemie an ihr Zuhause gebunden zu sein, aber das damit einhergehende Gefühl der Angst, Unruhe und Depression kannte sie nur gut. „Ich habe extreme Schwierigkeiten damit, mich an neue Situationen zu gewöhnen. Anfangs kam ich gar nicht damit klar, von zu Hause aus zu arbeiten“, sagt sie. „Meine geistige Verfassung hat mich schon einige Beziehungen gekostet und mir eine ganze Menge gesundheitlicher Probleme eingebracht. Mein Körper reagiert darauf, wie gestresst ich war.“
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Da sie früher ähnliche depressive Phasen durchlebt hatte, wusste Hong, was zu tun war: Sie suchte sich medizinische Hilfe und entwarf Tattoos. „Als Künstlerin ist das meine Art, mit Stress und meiner Depression klarzukommen“, erzählt sie. „Ich versuche immer, meine Depressionen und Ängste als Weg meiner Kreativität zu sehen, meine Aufmerksamkeit auf sie zu lenken.“ Innerhalb einer Stunde hatte Hong ein Tattoo-Design gezeichnet, inspiriert von einem Lieblingsfilm ihrer Kindheit: “Das Schloss im Himmel“. Nachdem sie zu Hause monatelang an dem Werk gefeilt, Tätowierer*innen in ihrer Gegend gesucht und auf die Lockerung der Corona-Einschränkungen gewartet hatte, setzte sie ihre Idee am 10. Juli in die Tat um. Das Ergebnis: ein beachtliches Tattoo auf der Innenseite ihres Oberarms.
Foto: bereitgestellt von Tammy Hong
Tammy Hongs florales Tattoo wurde von dem Film “Das Schloss im Himmel“ inspiriert
Während wir immer noch versuchen, mit der Doppelbelastung durch Corona und soziale Unruhen klarzukommen, flüchten viele in die Welt der Tattoos, nicht nur Hong. Es ist zwar noch zu früh, um mit Marktanalysen einen echten Pandemie-Ansturm auf Tattoos nachzuweisen. Doch die Geschichten derer, die es wissen müssen, sprechen für sich. Bei Katrina Jackson, der Besitzerin von Enigma Tattoo in Beverly Hills, hat sich die Anzahl an Nachfragen und Buchungen seit April verglichen mit letztem Jahr mehr als verdoppelt und das trotz durch die Sicherheitsauflagen und ungewöhnlich langer Wartelisten. Auch bei Elva Stefanie, Tattoo Artist und Chefin vom Studio The Blank Slate in New Yorker, haben sich die Buchungsanfragen im Mai verdoppelt – und in ihrem Gast-Studio in Maryland sogar vervierfacht. Sogar vorübergehende Schließungen von Tattoo-Studios ließen die Nachfrage nicht abebben. Die Bestellungen von DIY-Tattoo-Sets bei der kalifornischen Firma Stick and Poke Tattoo Kit sind seit Beginn der Ausgangsbeschränkungen im März um durchschnittlich 150 Prozent in die Höhe geschossen. Und laut Google Trends wird auch im Netz um 48 Prozent häufiger nach „Tattoos“ gesucht.
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Diese Entwicklung überrascht die Psychologin Dr. Vinita Mehta aus Washington D.C. ganz und gar nicht. Sie hat sich auf die Behandlung von Depressionen, Angststörungen und Lebensveränderungen spezialisiert und sagt: „Wenn die Daten stimmen, könnte man sich diesen aktuellen Tattoo-Trend ganz einfach damit erklären, dass sich viele Leute gerade sehr gestresst fühlen“, sagt sie.
Foto: bereitgestellt von Michelle Shingleton
Tattoo Artist Elva Stefanie hatte sich auf Absagen eingestellt, aber das Gegenteil geschah.
Elva Stefanie, die neun Jahre Berufserfahrung als Tätowiererin und mehrere Abschlüsse in Kunstgeschichte hat, sah den Ansturm vorher kommen. Laut ihr hat uns die Vergangenheit bereits gezeigt, es liegt in der Natur des Menschen, in chaotischen Zeiten Kunst zu erschaffen. „In primitiveren Zeitaltern malten Höhlenmenschen Samen, wenn sie kein Essen hatten, oder besonders fruchtbar aussehende Frauen, wenn ihre Probleme bei der Geburt hatten“, sagt sie. „In Zeiten der Not drücken sich Menschen durch Kunst aus. Bei allem, was gerade so los ist, erstaunt mich der Wunsch nach Tattoos und anderer Körperkunst nicht.“
Tatsächlich ist die Zeichnung, aus der Hongs neuestes Tattoo wurde, mehr als bloß ein Bild von schönen Blumen und Schmetterlingen, das vom Hayao-Miyazaki-Film inspiriert wurde. Sie trägt es als Zeichen ihrer Stärke und ihres Erfolgs. „Das Tattoo zeigt, wie weit ich gekommen bin“, sagt Hong. „Im Umgang mit meiner Depression habe ich jede Menge Höhen und Tiefen erlebt. Das Tattoo erinnert mich daran, was ich alles überstanden habe – und dass ich das auch wieder schaffen würde.“
Hongs Bedürfnis, sich ein Tattoo stechen zu lassen, um ihre Entwicklung zu verewigen, kann sich positiv auf die geistige Gesundheit auswirken, meint Dr. Shainna Ali aus Orlando, Therapeutin und Autorin des Selbsthilfebuchs The Self-Love Workbook. „Wir tun selbst gern Dinge, um uns an unsere Stärke und unsere Widerstandskraft zu erinnern; ein Tattoo kann eine Art und Weise sein, dies zu tun“, sagt sie und verweist auf das Semikolon-Tattoo. Viele Suizid- und Selbstverletzungs-Überlebende lassen es sich stechen, weil es die bewusste Entscheidung symbolisiert, weiterzuleben. Im Vergleich zu einen Punkt beendet ein Semikolon einen Satz nämlich nicht – es kennzeichnet nur das Ende eines Gedanken.
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Foto: bereitgestellt von Katrina Jackson
Tattoo Artist Katrina Jackson sagt, die Nachfrage nach Tattoos mit Bedeutung hat zugenommen
So unterschiedlich wie unsere individuellen Situationen in dieser Pandemie sind auch die Motivationen für den Wunsch nach (mehr) Tinte unter der Haut, um diese Lebensphase festzuhalten. „Manch eine*r will vielleicht gern an diese Zeit zurückdenken, um sich vor Augen zu rufen, wie sehr er oder sie sich währenddessen weiterentwickelt hat. Ein Tattoo könnte davon ein Ausdruck sein“, sagt Dr. Ali.
Jessica McGrady, die in einer Kreativagentur in London arbeitet, nutzt Tattoos schon lange, um wichtige Lebensereignisse festzuhalten. „Ich lasse mich tätowieren, wenn mir etwas passiert ist, woran ich mich erinnern möchte – zum Beispiel, als meine Schwester geboren wurde“, sagt sie. Nachdem sie drei Monate lang in Quarantäne ausgeharrt hatte, während Tattoo-Studios die in ihrer Nähe geschlossen waren, bestellte sich McGrady ein DIY-Tattoo-Set von Stick and Poke Tattoo Kits, um sich selbst an dieser Kunstform auszuprobieren. „Ich schätze, es klingt ein bisschen merkwürdig. Warum solltest du dich an eine weltweite Pandemie erinnern wollen? Ich denke aber, es ging mir um mehr als das. Die Zwangspause wurde für mich zu einer inneren Entdeckungsreise. Diese Zeit hat mich verändert.“
Foto: bereitgestellt von Jessica McGrady
Jessica McGrady hat sich mit einem DIY-Kit selbst tätowiert
McGrady hat mehrere kleine Tattoos an den Händen und elf weitere Werke am Körper. Sie stach sich das Wort „self“ auf das rechte Handgelenk und ein heidnisches Wikingersymbol auf den Mittelfinger, das einen Neuanfang symbolisiert. „Ich wollte etwas haben, das mich an diese Zeit erinnert“, sagt sie. „In der Quarantäne habe ich begriffen, dass vieles von dem, was mich vorher stresste, gar nicht wirklich wichtig ist oder mich ausmacht. Deswegen habe ich mir “self“ direkt auf die Hand geschrieben, wo ich es immer sehe – um mich wieder auf den Boden der Tatsachen zurückzubringen, falls ich mal vergessen sollte, was wirklich zählt.“
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McGradys Entscheidung zum selbstgestochenen Tattoo zeigt: Körperkunst kann helfen, bedeutende Erfahrungen zu verarbeiten. „Oft stehen Tattoos für entscheidende Kapitel oder Erlebnisse im Leben eines Menschen, die er oder sie in dieser Form des Selbstausdrucks festhalten will“, sagt Dr. Mehta. „Von einem psychotherapeutischen Standpunkt aus kann man das Tätowieren als Form der Verarbeitung einer wichtigen Erfahrung sehen.“
Das könnte auch erklären, warum Jackson im Vergleich zu Trend-Motiven immer mehr Anfragen zu persönlicheren Tattoos bekommt. „In letzter Zeit gibt es keine große Nachfrage nach Trend-Motiven. Die Leute kommen eher mit gut durchdachten, persönlichen Ideen zu mir“, sagt sie. „Vielleicht hat die Isolation ihnen die Zeit gegeben, sich etwas auszudenken, das ihnen selbst mehr bedeutet.“
Foto: bereitgestellt von Katrina Jackson
Katrina Jackson und ihr Team stechen aktuell viele Tattoos, die etwas mit Schwarzer Geschichte zu tun haben
Das traumatische Jahr 2020, das unter anderem den Fokus auf die weitverbreitete soziale Ungerechtigkeit lenkte, weckt immer mehr das Bedürfnis, Gefühle durch Kunst zu verarbeiten. Jackson und ihr siebenköpfiges Team haben in den letzten Monaten mehr von Schwarzer Geschichte und Schwarzen Movements inspirierte Motive entworfen denn je. Ähnlich geht es Stefanie (die unter anderem für ihre Schriftzug-Tattoos bekannt ist), die seit Monaten immer mehr Anfragen zu bekräftigenden („breathe“) und gesellschaftlich relevanten Sprüchen („I can’t breathe“) bekommt. „Ich glaube, die Leute lassen sich jetzt tätowieren, weil ihnen Sachen wie die George-Floyd-Tragödie vermutlich so nahe gehen“, sagt Jackson.
Ob es nun an einer globalen Pandemie liegt, der monatelangen Selbst-Isolation oder einer Gleichberechtigungsbewegung, dass du zu einem besseren Selbstverständnis findest: Dir jetzt ein Tattoo stechen zu lassen, kann dir dabei helfen, dich äußerlich besser auszudrücken und dich innerlich besser zu verstehen. „Wenn du etwas Ausdruck verleihst, festigt es sich in deinem Kopf. Und überleg mal: Welchen Zweck erfüllt denn Kunst in unserer Gesellschaft? Sie kann hübsch sein, uns neue Perspektiven eröffnen oder eine Form des Widerstands sein. Der Begriff “Körperkunst“ passt hier also gut“, sagt Dr. Mehta.
So sehr Hongs Tattoo sie persönlich bekräftigt, hat es für die Kunsthistorikerin aber auch einen gesellschaftlichen Kontext. „In einer Szene in Das Schloss im Himmel kümmert sich ein Roboter um all diese Pflanzen und Tiere, während er auf die Rückkehr seiner Prinzessin wartet. Während ich mein Tattoo designte, musste ich daran im Zusammenhang mit George Floyd denken“, sagt sie und erklärt, dass es ihr mit dem Motiv nicht nur um ihre eigene Selfcare geht. Es soll auch das Bedürfnis ausdrücken, sich um andere zu kümmern. „Es erinnerte mich an meine eigentliche Motivation für meine Kunst und Forschung. Mir geht es um soziale Gerechtigkeit – darum, andere mit meiner Kunst kulturell zu erreichen und sie als Plattform zu nutzen, um zum Gespräch zwischen verschiedenen Gruppen einzuladen.“

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