Einer der herzzerreißendsten Momente des Jahres 2020 war der, in dem ich meiner 21-jährigen Tochter Desiray im März mitteilen musste, dass sie wegen Corona aus England zu uns nach Kanada zurückkehren sollte, weil der Premierminister zur Heimreise aufgerufen hatte. Desiray stand kurz vor dem Abschluss ihres Jurastudiums; ich wusste, dass die Rückkehr sie zwingen würde, ihre letzten Prüfungen online abzulegen und vermutlich auch ihre eigene Abschlusszeremonie zu verpassen. Verglichen mit alldem, was in der Welt so los war, war es vielleicht banal, mir über sowas den Kopf zu zerbrechen – aber es tat mir so für sie leid, dass sie außerdem noch ihren Freund in England zurücklassen musste. Hätten mein Mann und ich wohl direkt zu Beginn eine Fernbeziehung durchziehen können? Ich bezweifle es. Wie ich mich kenne, hätte ich sicher Schluss gemacht und in den 22 Jahren zwischen damals und jetzt wohl ein völlig anderes Leben geführt.
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Während aus Wochen allmählich Monate wurden und ein Lockdown dem anderen folgte, wurde mir klar: Desirays Chance, bald nach Großbritannien zurückzukehren, wurde immer kleiner, und ich konnte absolut nichts tun, um ihr zu helfen. Ich bin ihre Mutter – ich sollte sie eigentlich vor Trauer und Enttäuschung beschützen können. Eine globale Pandemie drückte uns aber beide diese Entscheidung auf, für die es keine Alternativen gab: Desiray musste zu Hause bleiben.
Als mich meine Tochter also irgendwann darum bat, mich zum zweiten Mal zusammen mit ihr tätowieren zu lassen, konnte ich ihr das nicht abschlagen. Dabei hatte ich mir eigentlich nach der schmerzhaften ersten Erfahrung geschworen, sie nie zu wiederholen. Als Mutter (und eine, die auch gerne irgendwann mal den ‚Mutter des Jahres‘-Preis gewinnen würde) ließ ich mich aber doch überreden.
Ich gab mir viel Mühe mit dem Design des Tattoos. Es sollte symbolisieren, wie sehr mich 2020 abgehärtet hatte: Eine Lotusblüte, die über dem Wasser blüht, ihre Wurzeln aber tief in der Erde eingräbt, gefolgt von dem französischen Spruch „Ella n’a peur de rien“ – „Sie hat vor nichts Angst“. Die Position des Tattoos sollte zu dieser Message passen, also entschied ich mich dafür, mir die Lotusblüte hinter dem rechten Ohr stechen und den Spruch darunter in zarter Kalligraphie am Hals hinabwandern zu lassen. Es war perfekt: elegant genug, um einem baumelnden Ohrring zu ähneln, und gleichzeitig ziemlich badass.
Als ich also im Tattoostudio saß und darauf wartete, dass auch Desiray fertig war, fühlte ich mich plötzlich schuldig. Wir standen kurz vor einem besonders strengen Lockdown und hatten gerade erfahren, dass die neue COVID-19-Mutation auch in Kanada angekommen war. Als Familie blieben wir, wann immer möglich, zu Hause, hielten uns ans Social Distancing und die Maskenpflicht. Uns ein Tattoo stechen zu lassen, hätte für uns überhaupt keine Priorität sein sollen, und der Termin bedeutete einen eigentlich vermeidbaren Ausflug. Wenn ich mir meine Tochter aber so ansah, wünschte ich mir einfach diese Erinnerung mit ihr – an einen Moment, den sie nie vergessen würde, in dem wir quatschten und lachten, als steckten wir nicht mitten in einer Pandemie und hätten keine Masken im Gesicht. Ein Moment der Freude in einer Zeit der Ungewissheit.
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Nachdem wir wieder zu Hause waren, wartete ich ein paar Tage, bevor ich Fotos von dem Tattoo postete. Ich hatte Angst, von meinen Followern dafür kritisiert zu werden, dass ich mein Haus für so etwas Sinnloses verlassen hatte. Als ich endlich den nötigen Mut zusammengekratzt hatte, bekam ich sofort eine eindeutige Reaktion: Alle liebten es. Von diesem positiven Feedback fühlte ich mich wie beflügelt.
Bring on 2021. Elle n’a peur de rien. pic.twitter.com/ZN9JsgWSNC
— Celina Caesar-Chavannes (@iamcelinacc) December 24, 2020
Am nächsten Tag öffnete ich Twitter und wurde dort von der vertrauten blauen „1“ auf dem Briefumschlag-Button begrüßt. Ich hatte eine DM. DMs machen mich immer nervös – was sollte mir jemand privat mitteilen müssen, was er oder sie nicht öffentlich posten könnte? Die Nachricht kam von einem Freund namens Allen, von dem ich seit einer Weile nichts mehr gehört hatte. Er schrieb: „Ich wollte dir nur kurz Bescheid sagen, dass da beim Stechen jemand aus Versehen das ‚i‘ und ‚e‘ in ‚rien‘ vertauscht hat. Jetzt steht da ‚rein‘ – also ‚Niere‘. Ich dachte mir, ich weise dich mal besser drauf hin.“
WAS ZUR HÖLLE??? Ich sah mir meinen Post genauer an, dann meinen Hals, dann wieder das Foto, dann meinen Hals. „Sie hat keine Angst vor Nieren.“ Ich habe keine Angst vor Nieren. Für einen kurzen Moment überlegte ich panisch, wie lange ich würde warten müssen, um den Spruch ändern zu lassen. Das wäre schnell gemacht: Ein kleiner Punkt auf dem „e“, und das „i“ müsste eben zum „e“ werden. Kein Problem. Und dann machte es Klick – und ich lachte laut los: Was für ein perfektes Tattoo für dieses beschissene Jahr 2020.
Ich stand vorm Spiegel und lachte über die krasse Frau, die keine Angst vor einer Niere hatte. Was blieb mir auch anderes übrig? Wir alle haben ein Jahr überlebt, das uns direkt von Anfang an fertig machen wollte. Wir haben es geschafft, selbst am Ende von 2020 noch unsere Gesundheit, Freude und Liebe zu bewahren – selbst wenn diese Liebe eben manchmal Tausende Kilometer überbrücken muss. Wir leben noch. Also sollten wir uns die Zeit nehmen, einfach mal über dieses vergangene Jahr zu lachen – über unsere Fehler, über uns selbst. Das Jahr war ebenso wenig perfekt wie wir selbst, und trotzdem haben wir es überstanden.
Ich habe beschlossen, das Tattoo so schnell nicht ändern zu lassen. Ich behalte es erstmal, wie es ist. Also gib mir alles, was du hast, 2021 – denn ich bin die starke Frau, die nicht mal Nieren fürchtet. Und das habe ich sogar schriftlich.