Als ich mein Kopftuch ablegte, wurde ich mutig genannt – fühlte mich aber nicht so
Sich einer islamfeindlichen Welt als sichtbar muslimische Frau zu stellen, erfordert wesentlich viel mehr Mut, als bloß unverschleiert auf die Straße zu gehen.
Als ich zum ersten Mal seit fast 20 Jahren unverschleiert in der Öffentlichkeit durch einen Park ging, brannten meine Ohren. Bevor ich das Haus an diesem Tag verließ, hatte ich mich geistig auf diesen Moment vorbereitet: auf das Gefühl, wenn der Wind durch mein Haar wehen oder eine Strähne über meine Wange streichen würde. Das, was mir von diesem Tag aber am meisten im Gedächtnis bleiben wird, ist das intensive, für mich ungewöhnliche Stechen in meinen Ohren, für das die frische Frühlingsluft draußen verantwortlich war.
Es gab viele Dinge, mit denen ich wahrscheinlich hätte rechnen sollen, als ich mich vor zwei Jahren dazu entschied, mein Kopftuch abzulegen. Nichtsdestotrotz überraschten mich die Auswirkungen meiner Entscheidung ganz schön.
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Mit zehn Jahren fing ich an, ein Kopftuch zu tragen und hörte damit auf, als ich 28 war. Ich hatte monatelang mit dem Gedanken gespielt, bevor ich mich endgültig dazu entschloss, es tatsächlich zu wagen. Der Grund für meine Entscheidung war aber kein freudiger Anlass. Ich befand mich nämlich in einer spirituellen Sackgasse. Ich musste mir eingestehen, dass ich das Kopftuch nicht länger brauchte, um mich mit Gott verbunden zu fühlen – was aber keinesfalls bedeutete, dass mein Glaube auf einmal schwand.
Ganze 18 Jahre lang wachte ich jeden Morgen auf und wickelte mein Kopftuch um meine Haare, bevor ich mich auf den Weg nach draußen machte. An manchen Tagen ging alles schnell vonstatten und ich brauchte nur zwei oder drei Minuten. An anderen Tagen rutschte mein Hijab ständig runter und es dauerte eine Ewigkeit, bis ich endlich losgehen konnte.
Als ich beschloss, kein Kopftuch mehr zu tragen, wusste ich nicht, dass ich dieses heilige, manchmal nervige, tägliche Ritual so sehr vermissen würde. Das Tragen eines Hijabs stellte eine Form der Anbetung, ein stilles Gebet und eine Verpflichtung dar, die für mich so persönlich war wie meine eigene Haut. In den ersten Monaten nach meiner Entscheidung fühlte ich mich nackt, wann immer ich meine eigenen vier Wände verließ. Selbst jetzt, zwei Jahre später, gerate ich manchmal noch – wie von einem Phantom-Hijab verfolgt – in Panik, wenn ich draußen bin und mich daran erinnere, dass ich unverschleiert bin.
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Ich hatte nicht erwartet, dass mir Leute auf die Schulter klopfen und mich für meinen Mut loben würden. Es überraschte mich auch, wie sehr ihre Reaktionen mich verunsicherten.
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Der Verlust meiner alten Routine war aber nicht das Einzige, woran ich mich zunächst gewöhnen musste. Auch meine Interaktionen mit Menschen veränderten sich auf teils unerwartete Weise. Ich erinnere mich an das erste Mal, als mir jemand zu meiner Entscheidung gratulierte und mich als „mutig“ bezeichnete, weil ich mein Kopftuch abgelegt hatte. Das passierte ein zweites Mal, dann ein drittes Mal, ein viertes, fünftes, und so weiter. Ich hatte mich auf Fragen nach meinen spirituellen und religiösen Ansichten gefasst gemacht. In gewisser Weise hieß ich sie sogar willkommen. Ich war sogar darauf vorbereitet, von den Leuten in meiner Gemeinde geringgeschätzt und möglicherweise sogar als Sünderin verurteilt zu werden. Mit Lob hatte ich aber keinesfalls gerechnet. Ich hatte nicht erwartet, dass mir Leute auf die Schulter klopfen und mich für meinen Mut loben würden. Es überraschte mich auch, wie sehr ihre Reaktionen mich verunsicherten. Vielleicht hätte ich all das kommen sehen sollen.
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Nachdem ich mein Kopftuch abgelegt hatte, ging ich zu meinem alten Job, um mich mit meiner früheren Chefin – einer Frau, die mir meinen ersten Job in der Medienbranche verschafft hatte – und einer anderen Ex-Kollegin auf einen Kaffee zu treffen und uns zu unterhalten. Als sie meine Locken anstelle meines Kopftuches erblickten, an dessen Anblick sie doch so gewöhnt waren, rangen beide nach Luft und umklammerten meine Schultern.
„Oh mein Gott, du siehst so gut aus! Warum hast du deine Schönheit versteckt?!“
Aus Überraschung – nicht aus Heiterkeit – lachte ich und war nicht sicher, wie ich auf diesen Kommentar reagieren sollte. War ich vorher etwa hässlich gewesen? Der Gedanke brachte mich nur noch mehr zum Lachen.
„Das ist unglaublich. Ich bin so stolz auf dich“, sagte meine ehemalige Vorgesetzte und umarmte mich fest. Ich starrte sie ungläubig an und lief rot an. Stolz auf mich? Worauf denn genau? Die beiden Frauen fuhren mir abwechselnd durch die Haare, während ich wütend und verlegen dastand. Ihre Bewunderung verriet mir alles, was ich über die Frau wissen musste, für die sie mich wahrscheinlich gehalten hatten, als ich mich noch verschleiert gezeigt hatte.
Als immer mehr Menschen in meinem Leben von meiner Entscheidung erfuhren, kam es zu weiteren ähnlichen Begegnungen. Für manche war ich plötzlich eine ganz neue Frau – mutiger, kühner und freier. In Wirklichkeit war ich aber noch genau die gleiche Person, die ich mit Hijab gewesen war – bloß ohne Haarbedeckung. Weder hatte ich mich vor meinem Entschluss vor Angst gelähmt gefühlt, noch hatte ich jetzt vor, eine Freiheitserklärung abzugeben. Prinzipiell bin ich keine Person, die Lob für erbrachte Leistungen, für Dinge, die ich mir erarbeitet habe, ablehnt. Meine Entscheidung, mein Kopftuch abzulegen, fiel aber meiner Meinung nach einfach nicht in diese Sparte, weshalb es mir unangenehm war, dafür anerkannt zu werden.
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Fast zwei Jahrzehnte lang war mein Hijab ein fester Bestandteil meiner Persönlichkeit gewesen. Meine Haare zu verschleiern, lehrte mich eine wichtige Lektion darüber, wie ich mich in der Welt verhalten sollte – insbesondere, was es tatsächlich bedeutet, mutig zu sein. Früher musste ich mich immer mit hoch erhobenem Kopf zeigen und stets in höchster Alarmbereitschaft sein. Ich lernte auf die harte Tour, dass ich nicht gegen alle Mikroaggressionen ankämpfen kann. Sich mit jeglicher Form von Diskriminierung auseinanderzusetzen, wäre einfach zu viel für eine Person. Deshalb fing ich an, mir meine Kämpfe auszusuchen. Außerdem musste ich mich als sichtbar muslimische Frau einer islamfeindlichen Welt stellen, was wesentlich mehr Mut erfordert, als bloß unverschleiert auf die Straße zu gehen.
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Fast zwei Jahrzehnte lang war mein Hijab ein fester Bestandteil meiner Persönlichkeit gewesen. Meine Haare zu verschleiern, lehrte mich eine wichtige Lektion darüber, wie ich mich in der Welt verhalten sollte – insbesondere, was es tatsächlich bedeutet, mutig zu sein.
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Ich musste mich auch mit meinen eigenen Schuldgefühlen auseinandersetzen. Ich fühlte mich, als hätte ich meine Gemeinschaft irgendwie im Stich gelassen, als ich meinen Hijab ablegte. Als sich 2019 der Terroranschlag in Christchurch in Neuseeland ereignete, plagten mich unglaubliche Gefühle der Schuld. Zu dieser Zeit war ich so am Boden zerstört, dass ich beinahe wieder angefangen hätte, ein Kopftuch zu tragen. Das erscheint mir heute als ein verzweifelter Versuch, mich von den Schamgefühlen zu befreien, die ich damals absurderweise verspürte.
Früher fragten die Leute um mich herum immer, ob man mich dazu zwinge, ein Kopftuch zu tragen. Mit der Zeit lernte ich, die Fassung zu bewahren, meine Augen nicht zu verdrehen und mit einer höflichen Antwort zu reagieren, die ich unzählige Male geprobt und einstudiert hatte, sodass ich sie im Schlaf aufsagen konnte: „Nein, natürlich nicht. Das war durch und durch meine Entscheidung.“ Mein Gegenüber lächelte im Normalfall dann zwar immer freundlich zurück, manchmal konnte ich aber einen Hauch von Ungläubigkeit in den Gesichtern meiner Gesprächspartner:innen erkennen. Im Allgemeinen spielt es aber keine Rolle, was ich ihnen von meinen eigenen Erfahrungen erzählte. Manche Stereotypen sind einfach zu tief vergraben, um sie einfach wieder ausgraben zu können. Manchmal war die Reaktion auf meine Antwort auch ein mir ach-so-vertrautes Lächeln mit zusammengepressten Lippen und einem skeptischen Blick.
Seitdem ich kein Kopftuch mehr trage, reagieren die Menschen um mich herum völlig anders auf mich. Dieses neue Lächeln, mit dem ich noch umzugehen lernen muss, strahlt Bewunderung anstelle von Skepsis aus. Ich bin mir aber nicht sicher, ob ich das besser finde.
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