Als Gwen Swinarton während des Studiums ihr erstes ASMR-Video auf YouTube postete, war das ein Geschenk für ihren damaligen Freund. Fünf Jahre später nennt sie sich auf YouTube „Gwen“ oder „Gwen Gwiz“, hat über 500.000 Abonnent:innen auf ihrem ASMR-Haupt-Channel, weitere 210.000 auf ihrem Zweitkanal und fast 100.000 Follower auf Instagram. Über diese Plattformen hat sich Gwen ein eigenes kleines Social-Media-Imperium aufgebaut und verdient zwischen 3.000 bis 10.000 Dollar im Monat (umgerechnet sind das rund 2.500 bis 8.500 Euro). Und obwohl dieses Einkommen anfangs zwar prinzipiell für die Basics – Miete, Essen und Co. – reichte, musste Gwen leider nebenbei auch einen kleinen Schuldenberg abbauen: Ihre Kreditkarten- und Studienschulden beliefen sich insgesamt auf umgerechnet rund 33.600 Euro. Gwen wusste: Sie wollte ihre Online-Karriere vorantreiben, ohne ihre berufliche Selbstständigkeit und Freiheit aufgeben zu müssen. Also wandte sie sich hilfesuchend an diejenigen, die sie von Anfang an unterstützt hatten: ihre Fans.
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Wenn du dich durch Gwens Kommentarspalten auf YouTube scrollst, fallen dir dabei schnell zwei verschiedene Fan-Lager auf: Zuerst sind da die „Cheerleader“, meistens Frauen, die Gwen bejubeln und ihr erzählen, wie sehr sie ihnen mit ihren Videos geholfen habe. Das zweite Lager besteht aus den Leuten, die sich die Videos ansehen, weil Gwen, nun ja, eben attraktiv ist. Mit ihren langen, blonden Haaren, ihrem perfekt symmetrischen Gesicht und ihren großen Brüsten gilt Gwen als konventionell „heiß“, und die Verehrer:innen ihres Aussehens scheinen nicht genug davon zu kriegen. Sie posten Time-Stamps von den Sekunden, in denen sich Gwen zum Beispiel nach vorne beugt oder „sexy“ schmunzelt, und machen kaum ein Geheimnis daraus, dass sie ihre Videos als eine Art Porno nutzen. Es sind diese Leute, die Gwen schrieben, als 2019 eine unbekannte Person Nacktfotos von ihr ins Netz stellte, dass ihnen die Bilder gefielen und sie für weiteren nicht-jugendfreien Content auch durchaus Geld zahlen würden. Das weckte Gwens Interesse; nachdem sie jahrelang die sexuellen Kommentare unter ihren Videos ignoriert hatte, antwortete sie nun zum ersten Mal darauf und fragte nach, was genau sich diese Leute denn von ihr wünschten. Die schienen sich absolut einig zu sein: Ihrer Meinung nach sollte Gwen einen OnlyFans-Account erstellen und dort posten, worauf sie selbst Lust hatte. Nachdem Gwen ein paar Wochen recherchiert und sich an ihre kurze Erfahrung als Escort zurückerinnert hatte, tat sie genau das – und verdient heute über 70.000 Dollar (fast 60.000 Euro) im Monat.
Als der Gründer und CEO von OnlyFans, Tim Stokely, die Plattform 2016 auf den Markt brachte, wollte er damit die Influencer-Kultur finanziell aufs nächste Level bringen. „Ich sah, wie viel Geld Brands mit Influencern verdienten“, erklärt Stokely. „Und dann dachte ich mir: Was, wenn wir es diesen Influencern noch leichter machen könnten, Geld zu verdienen?“
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Der größte Unterschied zwischen OnlyFans und anderen ähnlichen Plattformen ist, dass OnlyFans auch sexuell expliziten Content genehmigt. Das Bezahlmodell ähnelt außerdem Webcam-Seiten, weil es abseits vom Abonnement auch noch Trinkgeldzahlungen und speziellen, extra kostenpflichtigen Content erlaubt. Simpel, aber genial – und weil OnlyFans seinen Creators die volle Kontrolle über ihre Körper, ihren Content und ihre Preise gestattet, ermöglicht ihnen das das eine fast schon revolutionäre Selbstständigkeit. Effektiv ist OnlyFans eine der wenigen Sphären, in der Sex-Arbeiter:innen selbst die Zügel in der Hand behalten. Sie können auf sichere Art Geld verdienen – indem sie zum Beispiel Lingerie-Fotos posten, Dick Pics bewerten oder eben auch einfach in näheren Kontakt zu ihren Fans treten. Noch dazu stellt die Firma all ihren Creators kostenfreie juristische Unterstützung zur Seite und ist bemüht, geleakten Content so schnell wie möglich zu beseitigen (denn ja, viele sexuell explizite Inhalte schwappen zum Beispiel zu PornHub rüber). Aber natürlich ist auch OnlyFans keine Wohltätigkeitsorganisation: Die Firma bekommt 20 Prozent der Profite ihrer Creators, und bei inzwischen 75 Millionen aktiven Usern verdient OnlyFans schon seit seinen ersten Tagen ordentlich Geld. Gleichzeitig funktioniert das System von OnlyFans aber eben auch sehr gut für die meisten seiner Creators: OnlyFans zufolge haben schon über 100 Creators mindestens eine Million Dollar auf der Plattform verdient.
Ursprünglich hatte Stokely OnlyFans nicht als Plattform für größtenteils sexuelle Inhalte geplant; trotzdem hat er nicht vor, die Seite jemals zu zensieren. „OnlyFans war schon immer ein Ort für alle Creators, und darauf bin ich sehr stolz“, sagt er. „Die Sparte der Erwachseneninhalte wuchs anfangs am schnellsten, weil diese Branche in Sachen Technologie den anderen oft etwas voraus ist.“ OnlyFans bedient aber auch andere Genres. Unter seinen Creators finden sich zum Beispiel auch Athlet:innen oder Musiker:innen – inklusive Stokelys persönlicher OnlyFans-Favoritin, Cardi B.
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Als Gwen im Juli 2020 ihren OnlyFans-Account erstellte, erhoffte sie sich damit ein kleines Nebeneinkommen. Das bekam sie – wobei aus dem „kleinen“ schnell ein großer Verdient wurde. Ein Jahr später hat Gwen Tausende OnlyFans-Abonnenten und verdient damit rund sieben- bis zehnmal so viel wie durch YouTube und Instagram. Schon in ihrem ersten Monat konnte Gwen ihre Kreditkartenschulden abbezahlen und sich ein Auto kaufen. Heute spart sie lieber, um irgendwann in OnlyFans-„Rente“ gehen zu können. Sie verspricht zwei Videos pro Woche und veröffentlicht jeden Tag exklusive OnlyFans-Fotos. Was genau sie postet, unterscheidet sich dabei aber stark; manchmal sind es Videos, die sie beim Masturbieren zeigen, mal beim Nacktyoga, mal beim Sex mit Männern. Ihre Fans kriegen aber einfach nicht genug – und Gwen selbst auch nicht. „Es ist echt absurd, wie viel Geld du damit verdienen kannst“, erzählt sie mir per E-Mail. „Ich kann es immer noch nicht ganz fassen.“ Als Gwen sich dazu bereit erklärte, für diesen Artikel mit mir zu sprechen, hatte sie eine Bedingung: Weil sie sich beim Telefonieren zu unsicher fühlt, mussten wir per E-Mail kommunizieren. Auf YouTube hat sie ihre Sozialphobie schon mehrmals angesprochen, und genau ihretwegen ist sie dankbar für eine Plattform wie OnlyFans. Sie schreibt: „Ich liebe es, von zu Hause arbeiten zu können, meine eigene Chefin zu sein, mich bei den Kostümen/Storylines/Videoaufnahmen und der Technik kreativ ausleben zu können und jede Menge Sex zu haben! Ich kann mir aktuell keinen besseren Job für mich vorstellen, und daher bin ich echt dankbar.“
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Natürlich ist Gwen auf OnlyFans eher die Ausnahme als die Regel; viele Creators verdienen ordentlich Geld, aber die wenigsten der über eine Million aktiven Content Creators bei OnlyFans können direkt Zehntausende Euro an Schulden abbezahlen.
Nehmen wir zum Beispiel Dr. P, eine 29-jährige Psychologin mit Doktortitel, die zu Beginn der Pandemie einen OnlyFans-Account erstellte, nachdem sie ihren Job als Hilfsprofessorin verloren hatte. In ihrer Forschung konzentriert sie sich auf sexuelle Gesundheitspolitik und arbeitet dabei oft mit Sexarbeiter:innen zusammen; als ihr Partner sie also dazu ermutigte, einen OnlyFans-Account zu starten, um ihren Einkommensverlust auszugleichen, kam ihr die Idee nur logisch vor. Heute verdient sie sich zwischen 1.000 und 1.700 Dollar pro Monat dazu (rund 840 bis 1.400 Euro), indem sie Fotos, Videos und Fetisch-Content verkauft. Dr. P macht nicht viel Werbung und sucht sich ihre Fans auch gut aus, indem sie für ihr OnlyFans-Abo 15 Dollar im Monat verlangt und komplette Nacktaufnahmen, Sexvideos und spezielle Wünsche nochmal extra kosten. Sie sagt, sie hat lieber eine kleine Anzahl leidenschaftlicher Fans, die ihr lange treu bleiben, als eine große Masse an Fans, die nur zwischendurch mal reinschauen. Auch Dr. Nichole, die auf Social Media als The Polecologist bekannt ist, hält es ähnlich: Für ihr OnlyFans braucht man eine Einladung. Ihre Fanbase ist klein, aber loyal – und gewillt, für speziellen Content auch mal draufzuzahlen.
Andere Creators wiederum – wie zum Beispiel 305 Bruja, nicht-binäre:r femme Cosplayer, Model und Aktivist:in – bauen sich ihre Followerschaft gerade erst auf und verdienen daher noch nicht einmal vierstellige Summen im Monat. „Ich glaube, wenn du nicht viel Geld mit etwas verdienst, fragen sich viele, wieso du es überhaupt machst“, meint er:sie. „Nein, ich gehöre zwar nicht zu den Leuten, die 17.000 Dollar im Monat verdienen – aber darauf arbeite ich ja erst hin, genau wie viele andere meiner Freund:innen in dem Business. Ich finde es wichtig, auch kleinere Creators zu unterstützen. Wenn ich Glück habe, verdiene ich zwischen 100 und 300 Dollar im Monat (rund 85 bis 250 Euro), meist von ‚Pay per view‘-Content, für den man extra zahlen muss.“ Für 305 Bruja geht es dabei aber um mehr als nur Geld. „Das hat mich darüber nachdenken lassen, was ich mir von einem Job überhaupt wünsche“, erzählt er:sie. „Ich habe mich in normalen Jobs schon so sehr abgemüht, wurde aber dauernd übersehen, unterbezahlt und unterschätzt. Jetzt liebe ich, was ich tue, und ich bin froh über diese Veränderung.“
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Andere Leute verwenden die Plattform auf mehrere Arten. Makayla Samountry zum Beispiel hat OnlyFans als strategisches Sprungbrett genutzt, um mehrere Einkommensströme zu generieren – inklusive durch andere Social-Media-Plattformen – und verdient jetzt umgerechnet über 25.300 Euro im Monat. Ihre Methode: Auf YouTube postet sie Content, der Leuten beim OnlyFans-Start hilft. Ihr OnlyFans-Content auf YouTube brachte ihr die ersten Fans ein, und jetzt nutzt sie ihren Channel sowohl für die Eigenwerbung für ihren OnlyFans-Account. Ein Drittel ihres Einkommens kommt aus OnlyFans-Abonnements und Pay-per-view-Einnahmen; die anderen zwei Drittel verdient sie damit, anderen Frauen beim Aufbau eines OnlyFans-Accounts zu helfen. (OnlyFans hat ein Programm, das Creators erlaubt, neue Creators an Bord zu holen; die alten bekommen dann ein Jahr lang fünf Prozent des monatlichen Einkommens der neuen.)
Du siehst also: Es gibt nicht die eine Art, auf OnlyFans Geld zu verdienen. Während man die Plattform sicher als einen verlängerten Social-Media-Arm betrachten könnte, in dessen Zentrum die Sexarbeit steht – mit Betonung auf Sex, nicht auf Arbeit –, ist die Priorität der meisten Creators eben doch die Arbeit daran. Letztlich ist OnlyFans nämlich vor allem eins: ein Business, in das man zwar schnell reinkommt, das aber nicht automatisch Reichtum verspricht. Jade*, eine queere Frau of color aus New York, postet nebenberuflich BDSM-Content auf OnlyFans und verdient damit umgerechnet zwischen 400 und 800 Euro monatlich. Tagsüber arbeitet sie als Grafikdesignerin und jobbt schon seit fünf Jahren nebenbei als Sexarbeiterin, arbeitete schon als Escort und Cam-Model. Sie betont: OnlyFans ist nicht einfach. „Das ist ein Job“, sagt sie. „Kein Hobby. Ich nehme das sehr ernst. Das ist kein leicht verdientes Geld – vor allem nicht, wenn du nicht ohnehin schon vorher viele Social-Media-Follower hattest.“
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Als Stokely OnlyFans gründete, wollte er Creators damit die Möglichkeit geben, für ihren Content Geld zu verlangen. In der Hinsicht ist OnlyFans wohl ein riesiger Erfolg – insbesondere, weil die Plattform für viele Leute nicht nur einen Karrierestart bedeutet hat, sondern es ihnen auch erlaubt, eine bestehende Karriere weiter auszubauen. Von Behind-the-Scenes-Content für Cardi Bs neuestes Musikvideo bis hin zu Spendensammlungen und Pole-Dancing-Videos: OnlyFans hat 2020 nochmal große Sprünge gemacht und viele Leute auf die Idee gebracht, online Geld zu verdienen. Das war vor allem in einem Jahr entscheidend, wo sich so viele Leute Sorgen um ihre Einkünfte machen mussten. Gleichzeitig ist OnlyFans etwas gelungen, was andere Firmen schon seit Jahren versuchen: Es hat den Konsum von bezahlter, ethischer Pornografie normalisiert und reguliert und damit die Porno-Industrie auf den Kopf gestellt. Die Macht und das Geld liegen nun in den Händen der Creators und Performers selbst; und obwohl es vielleicht nicht OnlyFans’ ursprüngliche Absicht war, hat die Firma eine Branche der Sexarbeit geschaffen, die nicht nur leicht zugänglich ist, sondern auch noch ethischer und sicherer für die Sexarbeiter:innen selbst. Und natürlich hat OnlyFans einige von ihnen auch noch sehr, sehr reich gemacht.
Gwen weiß, dass sie die Ausnahme ist. Trotzdem freut sie sich natürlich über ihren plötzlichen Erfolg. „OnlyFans war scheinbar meine Möglichkeit, all meine Träume wahr werden zu lassen“, sagt sie. „Dank dieser neuen Einkünfte kann ich mich jetzt auf die Arbeit konzentrieren, für die ich wirklich brenne. Ich muss mir keine Sorgen oder Stress mehr ums Geld machen, oder Markendeals abschließen, auf die ich keine Lust habe, nur um die Rechnungen zu zahlen.“ Jahrelang hatte Gwen fünfstellige Schulden; jetzt liegen sechsstellige Beträge auf ihrem Konto. Sie will so lange bei OnlyFans bleiben, wie sie sich wohl damit fühlt, so viel emotionale Energie in ihr Business zu stecken. Wenn sie mit OnlyFans fertig ist, will sie sich „auf Projekte und Ziele konzentrieren, die die Welt verbessern“. Wenn alles nach Plan läuft, kann sie schon mit reifen 28 Jahren in ihre weltverbessernde Rente gehen – in gerade mal drei Jahren.
*Name wurde von der Redaktion geändert.
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