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The Single Files

Ich bin eine 31-jährige Witwe & ratlos, wie ich mich verhalten soll

Ich bin VIEL zu jung hierfür.
Dieser Satz geht mir in den letzten Jahren immer wieder durch den Kopf – und manchmal habe ich ihn auch laut ausgesprochen. Als mein Mann Jon 2018 die Diagnose „Hirntumor im Endstadium“ bekam, waren wir beide erst 28. Wir sind einfach noch zu jung für diese Scheiße, dachte ich mir damals. Als Jon letztes Jahr verstarb, mit nur 30 Jahren, schoss es mir wieder durch den Kopf: Das kann doch jetzt nicht wirklich gerade passieren – wir sind zu jung. Inzwischen bin ich 31, und jedes Mal, wenn ich irgendwo ein Kreuz neben „verwitwet“ setzen muss (was öfter vorkommt, als du vielleicht denkst), kostet es mich einiges an Überwindung, nicht „Verrückt, oder?!!“ daneben zu schreiben. 
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Wann immer ich das Wort „Witwe“ höre, stelle ich mir dabei sofort eine rund 90-jährige Frau in einem schwarzen, viktorianischen Outfit vor, die traurig aus dem Fenster ihrer 1800er-Hütte starrt. Klar, dieses geistige Bild ist ein bisschen veraltet – aber die Popkultur hat andererseits auch nicht viel unternommen, um daran etwas zu ändern. In den Medien sehen Witwen oft aus wie die Gräfin aus Downton Abbey oder eine der Frauen in Golden Girls. Und obwohl ich persönlich zwar auf 80er-Jahre-Dekor stehe und gerne früh ins Bett gehe, entspreche ich diesem Alte-Damen-Stereotyp ansonsten eher weniger. Ich kann mich damit einfach nicht identifizieren.
Wenn du dir das stereotypische Bild eines Witwers anschaust, sieht das aber ganz anders aus. Kennst du noch Danny Tanner aus Full House? Oder Maxwell Sheffield aus Die Nanny? Oder Michael Bluth aus Arrested Development? Diese Männer sind alle total lieb und jung, werden als stark, einfühlsam, attraktiv und tiefsinnig dargestellt. Und das sind nur ein paar Beispiele aus einer langen Liste begehrenswerter Witwer aus TV und Film – denk nur mal an die Männer in Liebe braucht keine Ferien, Tatsächlich… Liebe oder Schlaflos in Seattle.
Verwitwete Frauen hingegen werden immer wieder als ältere, unterdrückte Katzenfrauen dargestellt – und leider viel zu oft auch als No-Go auf dem Dating-Markt. So fühle ich mich aber gar nicht. Und deswegen liegt es jetzt ganz an mir selbst, mir ein Image als liebe, clevere, junge Witwe aufzubauen. (Klingt das ein bisschen eingebildet? Es war ein hartes Jahr – bitte lass mich einfach.) Und ganz ehrlich: Das kann anstrengend und verwirrend sein. Selbst die simpelsten Bereiche meines heutigen Lebens fühlen sich an wie ein Minenfeld aus mir völlig fremden sozialen Normen, mit denen ich nichts anzufangen weiß.
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Wie sollte sich eine junge Witwe verhalten? Wirke ich zu fröhlich? Zu traurig? Habe ich Jon in diesem Gespräch zu oft erwähnt? Oder nicht oft genug? Steht mir dieses Outfit in Wahrheit gar nicht, aber niemand traut sich, mir die Wahrheit zu sagen, weil ich ihnen leid tue? All diese Fragen führen letztlich zu der einen großen: Mache ich das alles richtig?
Ich weiß, dass es darauf keine eindeutige Antwort gibt, und ich weiß (beziehungsweise hoffe), dass ich mich selbst stärker verurteile, als es andere tun. Trotzdem fühle ich immer den Druck, die „coole Witwe“ sein zu müssen – die andere nicht total runterzieht, aber trotzdem angebracht deprimiert ist. Ich möchte, dass andere von mir denken, ich hätte es ganz gut geschafft, mein Leben aufrechtzuerhalten; gleichzeitig will ich aber auch, dass sie automatisch Bescheid wissen, wenn ich gerade einen schlechten Tag habe. Und immer wünsche ich mir, dass mich die Leute auf Jon ansprechen. Ich denke sogar darüber nach, mir ein T-Shirt erstellen zu lassen, auf dem draufsteht: „BITTE FRAG MICH NACH MEINEM TOTEN MANN.“ Ich weiß nämlich, dass es manchen unangenehm ist, ihn mir gegenüber zu erwähnen; viel merkwürdiger ist es aber, wenn wir alle so tun, als sei er nicht immer noch der wichtigste Teil meines Lebens.
Meine Beziehungen zu allen Menschen in meinem Leben haben sich verändert; dasselbe gilt aber auch für meine Beziehung zu mir selbst. Ich stehe immer noch irgendwie unter Schock und kann nicht glauben, dass das alles wirklich passiert ist, und wenn ich der Zukunft entgegenschaue, bin ich mir gar nicht sicher, wie die aussehen könnte oder was ich mir davon wünsche. Besonders absurd fühlt es sich für mich aber an, mich als „Single“ zu bezeichnen. Ich hatte nicht geglaubt, mich je wieder mit diesem Wort beschreiben zu müssen, und der Begriff reicht einfach nicht aus, um die ganze Realität meiner Situation in Worte zu fassen. Schließlich schwingt da bei mir kein Beyoncé-„Put a ring on it“-Empowerment mit, wenn ich mich als „Single“ bezeichne
Bei der Hochzeit von Freund:innen bekam ich letztens einen weiteren handfesten Beweis meiner neuen, komplizierten Realität verpasst – in Form eines Platzkärtchens. In hübscher Kalligrafie stand dort „Mrs. Erica Finamore“, und mir würde direkt übel. Dabei war an der Karte an sich nichts auszusetzen; es ist tatsächlich so üblich, Witwen im englischsprachigen Raum für immer als „Mrs.“ zu bezeichnen (und nicht als die unverheiratete Version, „Ms.“). Aber da war sie wieder, die kalte Realität, verewigt auf einem Stück Papier: Ich war zwar verheiratet, aber eben auch allein. Während die Gäste um mich herum zu langsamer Musik eng umschlungen zu tanzen anfingen und ich sitzen blieb, wurde es mir bewusst: Trotz des Eherings, den ich immer noch trage, bin ich tatsächlich eine Single Lady.
Ich will nicht für immer bloß ein widersprüchlicher Name auf einem Platzkärtchen sein – bin mir aber auch nicht sicher, wann ich je dazu bereit sein werde, etwas dagegen zu unternehmen. Jetzt gerade fühle ich mich einigermaßen wohl damit, allein zu sein; zumindest mehr als vorher. Das liegt an dem Selbstbewusstsein, das ich aus dem Wissen ziehe, dass ich es wert war, von jemand so Wundervollem wie Jon geliebt zu werden. Ich weiß jetzt, dass ich unabhängig bin; dass ich selbst unendlich schwierige Situationen meistern kann, wenn ich es muss. Selbst, wenn ich dabei allein bin.

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