Safiya* war 19 Jahre alt und im ersten Semester ihres Medizinstudiums, als sie anfing, mithilfe von Pornos ihren Stress und ihre Depression zu bewältigen. Bis zu viermal täglich sah sie sich die Videos an, teilweise stundenlang – und diese Gewohnheit zog sich daraufhin durch ihr gesamtes vierjähriges Studium.
Erst im letzten Studienjahr begann sie, ihre Beziehung zu den Pornos als problematisch zu betrachten. „Es ging nicht mehr darum, mich gut zu fühlen; es war eine Angewohnheit, die Sehnsucht nach einem High“, erzählt Safiya, die heute 24 ist. „Ich weiß noch, dass ich mich danach komplett taub fühlte und ekelte mich sogar ein bisschen vor mir selbst. Ich verbrachte Stunden damit, mich durch die Pornos zu klicken, weil mir nichts mehr reichte.“
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Wenn von zwanghaftem Pornokonsum die Rede ist, denken viele dabei häufiger zuerst an Männer. In den Zahlen spiegelt sich das wider; Schätzungen zufolge sind fünf Prozent der Männer und ein Prozent der Frauen sex- bzw. pornosüchtig. Insgesamt sollen etwa eine halbe Million Menschen in Deutschland darunter leiden. Dabei ist es allerdings schwer zu beurteilen, wie weit das Problem unter Frauen tatsächlich verbreitet ist, da sie meist stärker unter dem Scham und der Stigmatisierung leiden, die mit dem unkontrollierbaren Pornokonsum oft verbunden werden. Dadurch werden sie eher davon abgehalten, sich Hilfe zu suchen.
Wie Refinery29 schon zu Beginn des Jahres schrieb, legt der Pornokonsum seit Beginn des Lockdowns immer weiter zu; vor allem Frauen scheinen während der Pandemie deutlich mehr Videos zu schauen. Safiya meint, dass der Stress und die Langeweile im Lockdown dafür sorgten, dass ihr Konsum besonders stark in die Höhe schoss – und obwohl sie versuchte, damit aufzuhören, wurde sie doch mehrmals „rückfällig“.
Obwohl es viele Menschen gibt, die sich wie Safiya als pornosüchtig bezeichnen, ist das genau genommen noch keine anerkannte „Sucht“ und wird von vielen Betroffenen auch nicht als solche beschrieben. Der Sex- und Beziehungstherapeutin Cecily Criminale zufolge beklagen sich ihre Patient:innen oft über „negative Assoziationen mit dem Pornokonsum – zum Beispiel, dass er viel Zeit verschlinge, sodass weniger Zeit für Freund:innen, Familie, Hobbys und Aktivitäten bleibe, dass die Pornografie nicht die erwünschte sexuelle Befriedigung liefere oder gar eine Beziehung belaste“.
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Ich war beim Sex mit meinem Freund schon erregt, aber der Akt selbst war eigentlich eher enttäuschend.
Veronica*
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Es gibt keine eindeutigen Kriterien dafür, ob der Pornokonsum einer Person noch „nur“ als Problem oder schon als „Sucht“ gilt. „Irgendjemand sieht sich vielleicht jeden Tag diese Videos an, ist aber in einer glücklichen Beziehung und hat gar keine Probleme mit dem Konsum“, erklärt Criminale. „Mir geht es darum, herauszufinden, wie ein authentischer, positiver Ausdruck der Sexualität einer Person aussehen sollte.“
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Wenn sich der Pornokonsum negativ auf das Sexleben von Betroffenen auswirkt, gilt er aber womöglich sehr wohl als problematisch. Die 27-jährige Veronica* ist selbsternannte „Pornosüchtige“ und erzählt, sie habe mit 18 mit den Pornos angefangen. Mit 21 hatte sie dann ihre erste Beziehung. „Ich war beim Sex mit meinem Freund schon erregt, aber der Akt selbst war eigentlich eher enttäuschend“, erinnert sie sich und ergänzt, dass sie Schwierigkeiten hatte, zum Orgasmus zu kommen. „Ich dachte mir immer: Pornos sind so viel besser.“
Veronica gab ihrem Partner gegenüber schließlich zu, dass die Pornos „ihre Sex-Dynamik beeinflussten“. Gegen den Konsumzwang unternahm sie aber erst etwas, als die Aussicht auf einen Urlaub ohne Internetzugriff bei ihr Panik auslöste. „Mir wurde klar, dass es ein Problem war, weil ich mir keine zwei Wochen ohne Pornos vorstellen konnte, obwohl ich in einer Beziehung bin“, sagt sie. Anderen geht es aber nicht zwangsläufig genauso: Safiya zum Beispiel meint, dass ihr Pornokonsum während einer viermonatigen Beziehung nachließ und aus ihrer Perspektive der Beziehung auch nicht schadete.
Wieso entwickeln manche Menschen denn so eine Abhängigkeit von der Pornografie? Die Gründe dafür sind oft komplex und vielseitig. Unter den Frauen, mit denen Refinery29 darüber sprach, hatten viele schon in jungem Alter Zugriff zu Pornos; eine Befragte gab an, schon mit neun Jahren solche Videos gesehen zu haben. Das ist nicht so außergewöhnlich, wie es klingt. Eine Studie von 2019 fand heraus, dass 51 Prozent der Kinder zwischen elf und 13 Jahren schon Pornos gesehen hatten. Von den 14- bis 15-Jährigen waren es dann schon 66 Prozent (und diese Zahlen sind vermutlich Unterschätzungen).
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Das liegt zum Teil daran, dass Kinder heutzutage immer früher den nötigen technologischen Zugang haben – und daran, dass die oft veraltete in der Schule vermittelte Sexualkunde junge Menschen häufig dazu zwingt, ihre Wissenslücken selbst zu füllen. „Wenn ich mit 14- oder 15-Jährigen darüber spreche, sagen sie oft, Pornos seien ganz normal und einfach eine Form der Sexualkunde“, meint auch die Beziehungs- und Sexualtherapeutin Miranda Christophers. „Für die Selbstentdeckung und -erkundung ist [die Pornografie] eine einfache Option, und daraus kann eine Gewohnheit entstehen.“ Eine Kritik, die im Zusammenhang mit schulischer Sexualkunde oft zu hören ist: Sexuelle Lust und Befriedigung wird oft in einem männerzentrischen, heteronormativen Kontext vermittelt, wodurch Frauen und Menschen mit Vulvas dazu gezwungen sind, vieles selbst herauszufinden.
Kein Wunder also, dass Pornos für viele junge Leute eine komfortable, leicht zugängliche Möglichkeit sind, um sich selbst zu informieren. Wenn aus diesem harmlosen Wunsch allerdings ein Zwang wird, kann das unangenehm werden. Für viele pornosüchtige Frauen entsteht diese problematische Beziehung durch das damit verbundene soziale Stigma, insbesondere im Zusammenhang mit weiblicher Sexualität. Safiya glaubt, ihre zutiefst religiöse, konservative Erziehung sei ebenfalls ein wichtiger Faktor für ihr Porno-Problem gewesen. „In meinem Elternhaus ist Sexualität nie ein Thema“, erzählt sie. „Im Porno geht es eben um Sexualität – und es ist mir peinlich, dass ich in diese Sucht geschlittert bin.“ Die Verbindung zwischen einer religiösen Erziehung und einem problematischen Pornokonsum ist längst erwiesen worden: Eine neue Studie ergab, dass religiöse Menschen „deutlich stärker zu sexuellen Zwängen“ neigen als ihre nicht-religiösen Mitmenschen.
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Anstatt Pornografie aber als durch und durch „böse“ zu verdammen, betonen Criminale und Christophers, wie wichtig es ist, den Ursprung der damit verbundenen Schamgefühle zu ermitteln und herauszufinden, ob sie auf gesellschaftlichen Stigmata aufbauen. Wie Christophers meint: „[Eine Person] hat vielleicht gar nicht unbedingt eine ungesunde Beziehung zu Pornos; es geht darum, die eigene Sicht auf Sex zu hinterfragen und herauszufinden, ob da auch Religion oder andere Faktoren mitspielen.“
Verinnerlichte Scham rund um die Pornografie kann auch mit radikaleren feministischen Ansichten zusammenhängen, die Pornos generell als Form von Vergewaltigung verurteilen und sich für deren Verbot einsetzt. Diese Bewegung wird zwar größtenteils als extrem betrachtet – trotzdem ist es natürlich wichtig, über die schädlichen Klischees und Fehlinformationen aufzuklären, die in vielen Pornos noch gang und gäbe sind. Insbesondere, weil diese Videos für so viele junge Menschen eine Form der Sexualkunde sein können.
Und obwohl es inzwischen immer mehr ethische Pornos gibt, ist ist sehr wahrscheinlich, dass Menschen, die enorm viele Pornos konsumieren, zwangsläufig irgendwann auch bei extremerem oder nischigem Content landen, der vielleicht nicht mehr ihren Werten oder Überzeugungen entspricht. Studien zufolge ist es „enorm weit verbreitet“, dass Betroffene von zwanghaftem Pornokonsum immer extremere Videos anschauen, um dabei noch einen ähnlichen Grad von „Schock, Überraschung […] oder sogar Anspannung“ zu empfinden.
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Die Erkenntnis, dass mein Geschmack immer weiter eskalierte, bis ich wirklich brutalen Content wie Vergewaltigung und Missbrauch konsumierte, schreckte mich komplett ab.
daniella*
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Für Daniella*, 31, sorgte genau diese Entwicklung für ein immer stärkeres Schamgefühl im Zusammenhang mit ihrer selbsterklärten Pornosucht, wodurch sie schließlich ganz mit dem Konsum aufhörte. „Die Erkenntnis, dass mein Geschmack immer weiter eskalierte, bis ich wirklich brutalen Content wie Vergewaltigung und Missbrauch konsumierte, schreckte mich komplett ab“, erzählt sie. „Weil ich von ehemaligen Partner:innen schon zum Sex gezwungen worden war, der mir dann keinen Spaß machte, wurde mir klar, dass ich anderen Frauen nicht bei derselben Erfahrung zusehen wollte.“
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Veronica hat Ähnliches erlebt. Sie erzählt, dass sie anfangs „romantische“ Pornos mochte, die ihr aber irgendwann nicht mehr reichten; daraufhin suchte sie nach „härterem“ Content. Auch Safiya bemerkte, dass sie immer speziellere Pornografie konsumierte – vor allem Hentai-Pornos, die sie als frauenfeindlich empfand. Und selbst Betroffene, die nicht irgendwann „abstumpfen“, landen durch die schiere Fülle an Porno-Content früher oder später bei Videos, mit denen sie sich selbst womöglich unwohl fühlen oder die sogar dem eigenen Ethikverständnis widersprechen.
Daniella vermutet, dass die Pornos für sie eine Form von Flucht waren; als sie sich den traumatischen Erlebnissen ihrer Vergangenheit stellte, schaffte sie es, die Gewohnheit abzulegen. „Es hat mir geholfen, mit Leuten über mein Trauma zu sprechen, die mich lieben. Ich bin viel in mich gegangen, das war sehr hilfreich“, sagt sie. „Manchmal spüre ich schon noch eine körperliche Reaktion auf pornografische Werbung, aber ich kann mich zum Glück immer wegklicken.“
Laut Criminale ist Daniellas Erfahrung kein Einzelfall. Viele ihrer Patient:innen haben Sex- oder Porno-Gewohnheiten entwickelt, die über die sexuelle Befriedigung hinaus noch den Zweck haben, negative Emotionen oder Traumata zu verarbeiten. Sie erklärt: „Wenn du das Gefühl hattest, keine Liebe zu verdienen, nicht gut genug zu sein, ein:e Außenseiter:in zu sein, oder wenn deine emotionalen Bedürfnisse nicht befriedigt wurden, hast du womöglich irgendwann unterbewusst festgestellt, dass sexuelle Erregung dagegen hilft… Das kann eine Strategie sein, vor Gefühlen oder Überzeugungen rund um uns selbst zu entkommen.“
Glücklicherweise gibt es inzwischen immer mehr Hilfsangebote – auch anonyme. Für Frauen und nichtbinäre Menschen, die unter einem problematischen Pornokonsum leiden, gibt es beispielsweise das Reddit-Form r/pornfreewomen, das inzwischen über 6.800 Mitglieder zählt. Die Gruppe, die 2018 gegründet wurde, hat laut ihrer Moderator:innen während des Lockdowns nochmal ordentlich Zuwachs bekommen.
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Safiya sagt, sie sei jetzt seit 50 Tagen „clean“ und hat über die Reddit-Gruppe eine:n Betreuer:in gefunden, bei dem:der sie sich jeden Tag meldet. Sie erzählt außerdem, dass ihr Sexting dabei helfe, den Drang zum Pornokonsum zu unterdrücken. Inzwischen gibt es auch technische Tricks: Die App Remojo zum Beispiel blockiert (gegen eine Gebühr) auf allen Geräten nicht bloß Porno-Seiten, sondern auch sexuellen Content in sozialen Netzwerken und sonstwo.
Während Daniella, Veronica und Safiya versuchen, die Pornografie komplett aus ihrem Leben zu streichen, ist das nicht unbedingt für jede:n die beste Idee. Natürlich können Pornos nämlich auch ein intaktes Verhältnis zur eigenen Sexualität aufbauen und erhalten. Damit wir diesen gesunden Umgang mit unserer Sexualität und Pornografie aber überhaupt erlernen können, braucht es vor allem gründliche Sexualkunde – und nur so können wir etwas gegen die Scham unternehmen, die so viele Frauen im Zusammenhang mit Sex noch immer quält.
* Namen wurden von der Redaktion geändert.