Reality-TV ist ein Genre, in dem sich Frauen häufig gegenseitig anschreien (siehe: The Real Housewives), um die Gunst eines mittelmäßig aufregenden Mannes buhlen (siehe: The Bachelor, Love Island), sich gegenseitig die Männer ausspannen (siehe: The Ultimatum) oder verzweifelt darum kämpfen, einen Kerl zum Heiraten zu finden (siehe: Love Is Blind).
Gleichzeitig ist Reality-TV aber eines der feministischsten Formate, die das Fernsehen heutzutage zu bieten hat. Bevor du mir widersprichst, lass es mich erklären – ich hätte selbst auch nicht gedacht, dass ich das mal so sehen würde! Als ich mit der Arbeit an meiner bald erscheinenden, 10-teiligen BBC-Podcast-Reihe Unreal anfing, hielt ich Reality-TV noch für mein „guilty pleasure“, mein heimliches Vergnügen, für das ich mich ein bisschen schämte. Schließlich hielt ich das Genre für trashig, ausbeuterisch und definitiv antifeministisch; als jemand, die sich schon lange für die Rechte von Frauen einsetzt, fühlte ich mich mies, dass mir Reality-TV so gefiel. Ich hatte mich inzwischen daran gewöhnt, meine Leidenschaft dafür gegenüber Leuten (insbesondere Männern) zu rechtfertigen, die sich nichts Spannenderes vorstellen können, als anderen Menschen dabei zuzusehen, wie sie stundenlang einen Ball quer über ein Feld kicken oder ganz schnell auf dem Fahrrad im Kreis fahren. Ja, wiederholte ich dauernd, ich weiß, dass Reality-TV schlecht ist. Aber es macht eben so süchtig.
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Dann fing ich irgendwann damit an, mir viele meiner Lieblingsshows nochmal anzusehen und mich mit der Geschichte des Genres zu befassen – und ich war überrascht, was ich dabei lernte. Aus historischer Sicht stehen Frauen nämlich im Reality-TV schon immer im Zentrum der Aufmerksamkeit. Die Dokumentation An American Familyvon 1973 wird häufig als eine der ersten Reality-TV-Shows angeführt. Sie drehte sich um eine mittelständische Familie aus Kalifornien – um Bill und Pat Loud und deren Kinder – und war insbesondere hinsichtlich ihrer Darstellung einer Scheidung bahnbrechend, ein Thema, von dem damals kaum gesprochen wurde, geschweige denn in einem so öffentlichen Medium. Nach außen hin war Bill Loud ein ziemlicher Mistkerl, Pat hingegen seine charmante, intelligente, durchsetzungsstarke Frau. Die Sympathie des Publikums gehörte voll und ganz Pat – vor allem, nachdem sie sich von ihrem Mann scheiden ließ, weil der sie betrogen hatte.
Seit An American Family bietet das Genre des Reality-TV auch vielen anderen wichtigen Themen aus der Realität der Leben von Frauen eine Plattform. Ich bin großer Fan der Real-Housewives-Reihe – obwohl ich natürlich eingestehe, dass der Fokus der Serie auf die Streits zwischen den Frauen in vielerlei Hinsicht rückständig ist. Wenn ich mich mal wieder leidenschaftlich für die Show ereifere, betone ich dabei oft, wie sehr sie das offene Gespräch über das Älterwerden von Frauen normalisiert hat. Ich denke da zum Beispiel an Kyle Richards, die sich darüber aufregt, dass ihre Co-Housewife Camille Grammer sie dazu zwingt, ein Brautjungfernkleid mit kurzen Ärmeln zu tragen – laut Kyle ein Ding der Unmöglichkeit für Frauen in ihren 50ern. Ich denke an Kim Richards, vierfache Mutter, die auf einem Trampolin auf- und abspringt und dabei Witze über ihre Stress-Inkontinenz macht. Ich denke daran, wie selten Frauen mittleren Alters in anderen Produktionen vor der Kamera ihre Beziehungen, Ziele, Kinder und Sexleben diskutieren dürfen – auf ihre ganz eigene exzentrische, liebenswürdige Art. (An dieser Stelle eine Bitte an die Produzent:innen der Show: Bitte tut alles, um Kathy Hilton ihren Diamanten zu beschaffen. Ich liebe diese Frau.)
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Als eine Widerspiegelung unserer Leben ist das Reality-TV ein Format, das schwierige, aber wichtige Diskussionen über diverse Themen wie HIV/AIDS, häusliche Gewalt und Sexualität anregt.
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Als eine Widerspiegelung unserer Leben ist das Reality-TV ein Format, das schwierige, aber wichtige Diskussionen über diverse Themen wie HIV/AIDS, häusliche Gewalt und Sexualität anregt. Lance Loud, der Sohn von Bill und Pat aus An American Family, war beispielsweise einer der ersten Menschen, die sich im US-Fernsehen öffentlich als homosexuell zeigte. Nachdem er 1987 von seiner HIV-Infektion erfahren hatte, setzte er sich für ein besseres öffentliches Bewusstsein und Verständnis gegenüber der hochstigmatisierten Krankheit ein, bis er 2001 an Hepatitis-C-Komplikationen starb. Taylor Armstrong, eine ehemalige Housewife, schrieb in einer New-York-Times-Bestseller-Biografie über ihre Erfahrungen mit häuslicher Gewalt durch ihren Mann und sprach auch vor der Kamera ganz offen darüber, dass auch Frauen mit scheinbar „perfektem“ Leben gewalttätigen und kontrollsüchtigen Männern zum Opfer fallen können. Ich selbst schämte mich während meiner Jugend für meine Sexualität – aber eine ganze Generation junger Frauen kann jetzt dabei zusehen, wie die Sexenthusiastin Maura Higgins selbstbewusst durch die Love-Island-Villa stolziert und von „Schmetterlingen in [ihrer] Muschi“ redet, und daraus schließen, dass Frauen genauso sexuell frei sein können wie Männer. Und jetzt gerade musste ich beim Schauen von Selling Sunset feststellen, dass Chrishell Stauses Schwierigkeiten mit ihrem Babywunsch in ihren 40ern auch der gelebten Erfahrung vieler meiner Freund:innen entspricht.
Reality-TV bietet Frauen außerdem schon seit Anbeginn des Genres die Chance auf eine lukrative Karriere – auch nach dem Ende der jeweiligen Sendung. Nachdem An American Family ausgestrahlt worden war, startete Pat Loud, die zuvor Hausfrau gewesen war, eine Karriere im Verlagswesen und schrieb selbst einen Bestseller. Bethenny Frankel aus The Real Housewives of New York City gründete eine Firma für kalorienarmen Alkohol, Skinnygirl, die sie angeblich für 100 Millionen Dollar weiterverkaufte. Und natürlich hat sich auch die Reality-TV-Familie schlechthin, die Kardashians, ein Multi-Milliarden-Imperium aufgebaut – dank jeder Menge Cleverness, weniger Hemmungen und des Willens, zugunsten der Einschaltquoten Drama zu inszenieren.
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Gleichzeitig gewährt das Reality-TV auch Frauen eine Plattform, die es ansonsten wohl nicht auf unsere Bildschirme schaffen würden. Jade Goody war eine junge Frau aus der Arbeiterklasse, als sie 2002 in der dritten Staffel der britischen Ausgabe von Big Brother zum großen Star wurde. Sie wurde daraufhin zu einem der berühmtesten – und erfolgreichsten – Stars der Nation, bevor sie mit 27 an Gebärmutterhalskrebs verstarb. Alison Hammond, ebenfalls ehemalige Big-Brother-Teilnehmerin, ist in Großbritannien heute eine beliebte Talkshow-Moderatorin. Als Schwarze Frau mit Arbeiterklassenhintergrund ohne jegliche TV-Erfahrung oder große Kontakte wäre sie wohl nie zur Talkshow-Moderatorin aufgestiegen, wenn Reality-TV sie nicht dorthin befördert hätte.
Keine Frage: Das Genre ist alles andere als perfekt. Als Reality-TV Mitte der 2000er durch die Decke ging, galt das Slutshaming junger weiblicher Stars wie Lindsay Lohan, Paris Hilton und Britney Spears (die zufällig alle eigene Reality-TV-Shows hatten) in den Gossip-Magazinen noch als völlig „normal“. Diese Frauenfeindlichkeit fand dann natürlich auch ihren Weg in die Reality-Shows – und wir sind bis heute damit beschäftigt, sie allmählich und mühsam wieder daraus zu verdrängen.
Was mir aber in den Gesprächen mit über 60 Reality-TV-Teilnehmer:innen, Kritiker:innen und Produzent:innen für den Podcast klar wurde, ist, wie unverwüstlich und anpassungsfähig dieses Genre doch ist. Obwohl das Reality-TV sicherlich manchmal oft rückständig und antifeministisch war, lag das vor allem an der Zeit, in der wir lebten. Jetzt, wo es allmählich zu einer progressiveren Version seiner selbst wird, liegt das daran, dass wir uns als Gesellschaft weiterentwickelt haben. Veraltete, regressive Einstellungen finden wir bis heute in diesem Genre, weil sie auch in der Gesellschaft bis heute vorhanden sind. Insgesamt würde ich aber behaupten, dass das Reality-TV Frauen im Vergleich mit anderen Formaten eine größere Chance dazu bietet, ganz sie selbst zu sein – so dramatisch und chaotisch, wie sie eben sein möchten.
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