Unicorns begegnen uns jeden Tag. Auch du hast sie schon kennengelernt. Sie stehen neben dir in der Bahn. Oder im Sportkurs. Oder nehmen neben dir im nächsten Meeting Platz. Und genau hier beginnt das Problem: Auf den ersten Blick wirken sie vollkommen unscheinbar. Geradezu sympathisch. Vielleicht seid ihr sogar befreundet.
Woran du sie erkennst? Sie stehen komplett geschminkt und wahnsinnig entspannt an der Haltestelle, während du im letzten Moment durch die Bahntür hüpfst und dir eigentlich noch heimlich die Wimpern tuschen möchtest. Sie schaffen es, in der Bikram-Yogaklasse das Knie ganz durchzustrecken, wenn die Trainerin Standing Head To Knee ansagt und deine Sehnen nur milde lächeln. Sie lassen die Idee, die dir auf der Zunge liegt, mal eben entspannt in der Kaffeepause fallen und verändern damit alles.
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Im Silicon Valley werden Start-Ups als Unicorns bezeichnet, wenn man sie mit mehr als einer Milliarde Dollar bewertet werden. Zu ihnen gehören Uber und Airbnb: die magischen Exemplare einer sowieso schon boomenden Branche. Genauso fühlen sich die Unicorns unseres sozialen Umfelds an. Während man selbst immer zu spät dran ist, schon wieder verschlafen und die Deadline gerade so geschafft hat, sind uns die Unicorns nicht nur eine Nasenlänge voraus – nein, es scheint ihnen auch noch mühelos von der Hand zu gehen.
Welche Gruppendynamik so ein Unicorn verursachen kann, dürfen wir aktuell Woche für Woche bei Germany's next Topmodel verfolgen. Kandidatin Sabine wird nicht nur regelmäßig zu Castings eingeladen, sondern sichert sich meistens auch direkt den Job. „Ausgerechnet Sabine“, heißt es dann aus dem Kreis ihrer Konkurrentinnen. Die, die – angeblich – sowieso nie ihr wahres Gesicht zeigt. Die, die damals beim Steinchenwalk schon empfindlich war. Die, die immer nur lächelt, wenn die Kameras an sind oder der Kunde guckt. Und überhaupt, die anderen hätte es heute wirklich mehr gebraucht.
Sätze, die Freunden der gepflegten TV-Unterhaltung bekannt vorkommen dürften. Traditionell hat es eine Person, die in einem Castingformat reihenweise Jobs oder wenigstens Jury-Lob einheimst, in den Augen der anderen schon irgendwie verdient, aber nicht wirklich.
Doch woran messen wir eigentlich, dass ausgerechnet heute wirklich mal jemand anderes an der Reihe gewesen wäre? Es ist nicht unbedingt die Anzahl der Erfolge, sondern viel mehr die Mühelosigkeit, mit der sie erreicht werden. Wir sehen lieber Antiheldinnen, die kämpfen und dann gewinnen, als Unicorn-Heldinnen, die sich beim Lauf über die Ziellinie auch noch makellos aussehen.
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„Neid sind getarnte Selbstzweifel“, sagt Steve Almond, US-Podcastmoderator von Dear Sugar Radio, der sich mit seiner Kollegin Cheryl Strayed einmal wöchentlich der „radikalen Empathie“ widmet. In ihrer Reihe zu Freundschaften diskutieren sie die Frage, warum man nicht nur in einem Fall wie Sabines Neidimpulse nicht unterdrücken kann. Es fühlt sich genauso an, wenn man doch eigentlich weiß, dass die scheinbar perfekte Freundin mit dem scheinbar perfekten Leben nachts wach liegt und über Kinder und Finanzen grübelt.
Almond plädiert dafür, die Erfolge anderer nicht als Vorwurf an sich selbst zu sehen. „Nehmen wir mal an, Steven würde einen großen Award gewinnen, den ich auch gerne hätte. Natürlich freue ich mich dann für Steve, aber ich wäre auch eifersüchtig“, meint Strayed. Das sei auch vollkommen okay. Der Impuls ist nichts Schlechtes, wichtig ist nur, darauf aufzupassen, dass er nicht Überhand gewinnt.
Neid ist kein Schlag ins Gesicht und auch nicht unbedingt ein Ansporn, höher zu springen als alle anderen. Stattdessen erinnert er uns freundlich an zwei Worte, die wir uns quer auf die To-Do-Liste schreiben sollten: „Gönn dir!“. Der Ursprung des Begriffs lässt sich auf das „Jugendwort des Jahres“-Voting von 2014 zurückdatieren. Laut Vice kann Rapper Moneyboy die Wortschöpfung sowie ihre Bedeutung im heutigen Kontext mit hoher Wahrscheinlichkeit für sich beanspruchen. „Gönn dir!“ ist eine Aufforderung, die sich ganz bewusst auf das Gegenüber bezieht und nicht auf unser Ego – aber mit der nötigen Portion Lässigkeit, die nicht ausschließt, dass man es sich selbst morgen nicht mindestens genauso gönnen könnte.
Genau hier liegt der Schlüssel: heute nicht, aber vielleicht schon morgen. Oder in naher Zukunft. Auf jeden Fall irgendwann. Weil Gönnung keine Einbahnstraße ist, sondern mindestens so groß wie hundert Fußballfelder.
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