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Harmlos oder krankhaft? Ist es schlimm, sich ständig Haarsträhnen um die Finger zu wickeln?

Photographed by Megan Madden.
Vom Nägelkauen bis hin zum zwanghaften Kratzen – für viele körperliche Angewohnheiten kann man Stress und Ängste verantwortlich machen. Was viele nicht wissen: Auch das um den Finger wickeln von Haaren kann ein solches Symptom sein. Vielleicht fällt dir irgendwann auf, wie du dir bei der Arbeit oder beim Fernsehen geistesabwesend mit einer Haarsträhne spielst. Aber wie lange gilt das noch als harmlos, und ab wann wird es zum krankhaften Zwang?

Was bedeutet “Haarezwirbeln“?

Laut Duden bedeutet zwirbeln erst Mal nur: „mit den Fingerspitzen [schnell] zwischen zwei oder drei Fingern drehen“. Wenn dein Opa seinen Schnauzer in Form bringt, zwirbelt er also dafür mit Daumen und Zeigefinger die Barthaare, so dass die Seiten spitz zur Seite abstehen. Umgangssprachlich wird der Begriff aber auch noch für eine andere Bewegung, mit nur einem Finger, genutzt: Simone Thomas, Leiterin einer britischen Haarverlust-Klinik, definiert das folgendermaßen: Du wickelst deine Haare mit einer Kreisbewegung um deinen Finger. „Das sieht man häufig bei Kindern“, sagt sie, „aber auch Erwachsene können sich das angewöhnt haben.“ Laut der Trichologin (das sind Ärzt*innen, die auf Haarprobleme spezialisiert sind) Stephanie Sey ist das Haarezwirbeln weit verbreitet. „Das Zwirbeln kann verschiedene Gründe haben; von einfacher Langeweile bis hin zum Stress- oder Angstabbau.“ Wie sie allerdings hinzufügt, ist das Zwirbeln an sich noch kein Symptom für eine ausgeprägte Angststörung oder innere Unruhe.
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Inwiefern unterscheidet sich das Haare zwirbeln oder drehen von Trichotillomanie?

„Die Trichotillomanie ist eine Störung der Impulskontrolle“, sagt Simone. „Durch das wiederholte zwanghafte Ausreißen der Haare entstehen kahle Stellen, wo möglicherweise irgendwann nichts mehr nachwächst.“ Obwohl sich die Wissenschaft den Auslöser der Trichotillomanie nicht erklären kann, gibt es dazu diverse Theorien. „Manche Expert*innen sind überzeugt, Haare ausreißen sei eine Art Sucht. Je mehr Haare du dir ausreißt, desto stärker wird das Bedürfnis danach“, sagt Simone. „Die Störung kann aber auch ein Bewältigungsmechanismus für psychische Probleme wie Stress oder Ängste sein.“
Stephanie stimmt zu: Die Haare zu zwirbeln oder um den Finger zu wickeln ist keine Form der Trichotillomanie, bei der sich Betroffene Kopfhaare, Wimpern, Augenbrauen oder andere Körperbehaarung ausreißen. Sie ist sich allerdings sicher, dass beides Hand in Hand gehen kann. „Manche eine*r zwirbelt und spielt mit den Haaren, bevor er oder sie sich dann eines zum Ausreißen aussucht“, sagt Stephanie.

Wie hängt Haarzwirbeln mit Stress und Ängsten zusammen?

„Abhängig von der Ursache kann das Zwirbeln unterschiedlich schwere Formen annehmen“, sagt Stephanie. Das ist vor allem während der Corona-Pandemie zu spüren: Immer mehr Menschen klagen über Haarverlust. „Wenn sich jemand vor Corona schon aus Nervosität die Haare um den Finger gewickelt hat, kann diese momentane Phase der Ungewissheit das Zwirbeln natürlich verschlimmern“, fügt Stephanie hinzu.
Im Fall der Grafikdesignerin Rose sind Ängste für ihr Verhalten verantwortlich. „Ich begann im Alter von sieben oder acht, mit die Haare um den Finger zu wickeln. Dafür wurde ich früher sogar ausgeschimpft“, erzählt sie R29. „Meine Familie dachte damals, das sei eben eine kindische Angewohnheit. Heute bin ich allerdings 20 und kann euch sagen: Das Zwirbeln hat definitiv mit meinen Ängsten zu tun.“ Rose leidet unter einer bipolaren und einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Das führt manchmal zu Problemen mit ihrer Sinneswahrnehmung. „Ich verlasse mich am meisten auf meinen Tastsinn. Daher brauche ich Texturen, die ich erfühlen kann – wie eben meine Haare. Das Haarzwirbeln hat für mich was Tröstendes. Ich könnte zwirbeln, bis meine Haare total verfilzt sind oder als Knäuel ausfallen.“ Rose hat daher sogar einige Haare verloren und musste sich einige Strähnen rausschneiden lassen, nachdem das Zwirbeln ihre Spitzen zu sehr ruiniert hatte.
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Die Autorin und Illustratorin Sarah macht ihre Zwangsstörung für ihr Haarzwirbeln verantwortlich. „Seit ich sechs war, habe ich neben einer Sozialphobie auch Zwangs- und Angststörungen – das liegt in der Familie. Nach einem Umzug wurden meine Symptome schlimmer. Als ich dann anfing, mir die Haare um die Finger zu wickeln, war das mit meiner Zwangsstörung verknüpft: Ich musste mir immer so-und-so oft die Haare um den Finger wickeln. Als ich älter wurde, war das irgendwann kein Zwang mehr, aber ich mache es immer noch.“
Wann immer sie besonders gestresst oder unruhig war, fiel Sarah auf, dass sie sich häufiger die Haare zwirbelte – völlig unterbewusst. „Ich fange irgendwann einfach damit an“, erzählt sie R29. „Am liebsten spiele ich mit den Haaren auf der linken Kopfseite, hinten im Nacken. Genau da sind meine Haare an einer Stelle inzwischen richtig kurz, weil sie durch das Drehen und Wickeln abbrechen und ich manchmal verknotete Strähnen rausschneiden muss. Ich habe schon so oft versucht, damit aufzuhören und die Haare nachwachsen zu lassen. Ich halte aber nie lange durch; der “Tick“ sitzt einfach zu tief.“ Inzwischen wird Sarah deswegen sogar beim Friseurtermin ganz nervös. „Ich kann nicht so tun, als wären das eben schwer zu bändigende Babyhaare. Dafür sind es an der Stelle einfach zu viele. Einmal wurde ich sogar gefragt, ob mir da irgendwas passiert sei. Ich meinte, es war ein Unfall. Die Wahrheit wäre unnötig kompliziert gewesen.“
Auch Whitney spielt aus innerer Unruhe mit ihren Haaren. „Ich mache das jeden Tag“, schreibt sie R29 auf Twitter. Bisher sind Whitney zum Glück keine bleibenden Schäden an ihrem Haar aufgefallen. Sie glaubt, das Zwirbeln sei eine von mehreren nervösen Angewohnheiten: „Wenn ich aufgeregt bin, beiße ich mir von innen in die Wange. Meine Haare drehe ich, weil sie so schön weich sind. Wenn ich was anderes Weiches anfasse, hat das dieselbe Wirkung.“
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Kann Zwirbeln den Haaren und der Kopfhaut schaden?

Abhängig davon, wie stark du zwirbelst, kann das durchaus passieren, sagt Stephanie. „Das kann die Schuppenschicht beschädigen. Das führt dann zu Haarbruch und Spliss, womöglich auch zu Knoten und Verfilzungen.“ Wenn du deine Haare direkt am Ansatz um die Finger wickelst, kann dir diese dauernde Zugbelastung am Ende sogar kahle Stellen bescheren. „Das ist dann eine Form der Traktionsalopezie“, sagt Stephanie – das heißt: Haarausfall durch wiederholtes Zerren an der Wurzel.
Die möglichen körperlichen Konsequenzen beschränken sich dabei nicht nur auf Kopfhaut und Haare; Sarah erzählt, auch ihre Nägel hätten sich verändert. „Wenn ich meine Haare eindrehe, drücke ich damit gegen mein Nagelbett. Deswegen habe ich an meinen ‚Zwirbel-Fingern‘ jetzt merkwürdige Nagelbetten, die mir manchmal sogar wehtun.“ Laut der American Academy of Dermatology kann wiederholtes Zupfen oder Schieben am Nagelbett deiner Daumen für Rillen im Nagel sorgen. Das mag zwar nicht gefährlich sein, doch du solltest dennoch besser deine Dermatologin beziehungsweise deinen Dermatologen oder deine Hausärztin beziehungsweise deinen Hausarzt zu Rate ziehen, wenn du vermutest, es könnte daran liegen, dass du deine Haare um den Finger wickelst.

Wie du damit aufhörst

Laut Simone fällt es vor allem Erwachsenen schwer, sich das Zwirbeln abzugewöhnen – vor allem, wenn sie es schon ihr ganzes Leben lang tun. Sie empfiehlt, dem eigentlichen Auslöser auf die Schliche zu kommen. Liegt es am Stress, an innerer Unruhe? Simone und Stephanie sind sich einig: Eine Psycho- oder Verhaltenstherapie wäre in diesem Fall ein empfehlenswerter erster Schritt. Wende dich davor an deinen Arzt oder deine Ärztin, um dir professionellen Rat und eine entsprechende Überweisung einzuholen.
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Liegt deine nervöse Angewohnheit tatsächlich an übermäßigem Stress oder Angstzuständen, kannst du es auch mit Achtsamkeitsübungen wie Meditation oder Sport versuchen. Auch Ablenkung kann helfen, sagt Stephanie: „Sorge dafür, dass deine Hände anderweitig beschäftigt sind“. Es gibt spezielle Quetschbälle zum Stressabbau, und auch die gehypten Fidget Spinner wurden eigentlich explizit für die Beschäftigung unruhiger Hände entwickelt. Simone schlägt außerdem vor: „Flechte deine Haare zum Zopf oder setze einen Hut auf – dadurch kannst du deine Haare gar nicht zwirbeln. Trotzdem solltest du eher dem Auslöser auf die Spur gehen, anstatt bloß ein Pflaster über die Symptome zu kleben.“
Rose hilft es auf jeden Fall, sich abzulenken; gern auch außer Haus. „Ich bin viel ruhiger, wenn ich nicht zu Hause bin“, sagt sie. „Ich denke, bei mir wird Stress zu einem großen Teil von meiner Familie verursacht. Je mehr Zeit ich also zu Hause verbringe, desto mehr Ablenkung brauche ich als Ausgleich. Ich wickele dann gerne einen Faden um meinen Finger oder spiele ein Instrument, um mich vom Haarzwirbeln abzuhalten. Ich kann dir nur raten, dir ein beruhigendes Hobby zu suchen.“
Auch Sarah hat es geschafft, aufs Zwirbeln zu verzichten, indem sie sich anderweitig ablenkt. „Meistens stürze ich mich dann in Schreib- oder Illustrationsprojekte, für die ich mich wirklich begeistern kann. Aber auch das ist keine Erfolgsgarantie“, sagt sie. „Ich habe lange Haare, daher hilft es mir, einen Zopf zu tragen und alle losen Haare zu fixieren. Außerdem habe ich meinen Freund gebeten, mich darauf hinzuweisen, wenn er mich beim Haare um den Finger wickeln ertappt. Er weiß aber auch: Eigentlich ist es zu spät, um die Angewohnheit für immer zu unterdrücken. Ich habe mich eigentlich damit abgefunden, dass ich das vermutlich mein Leben lang machen werde.“
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Stellst du jetzt fest, du könntest eventuell ein ähnliches Problem haben, könnten dir Selbsthilfegruppen oder Online-Foren guttun. Im deutschsprachigen Raum gibt es dafür zum Beispiel das Trichotillomanie Center, das nicht nur Betroffenen, sondern auch Angehörigen Informationen und Support bietet. Deine erste Anlaufstelle sollte aber in jedem Fall deine Ärztin beziehungsweise dein Arzt sein – oder sogar ein*e Tricholog*in.
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Wenn du selbst extrem viel Stress hast, aneiner Angststörung leidest oder eine Person kennst, die eventuell Hilfebrauchen könnte, kannst du die Hotline der TelefonSeelsorge unter 0800111 0 111 oder 0800 111 0 222 anrufen oder den Chat der TelefonSeelsorge nutzen.

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