Bis Anfang des Jahres konnte ich mich heimlich damit brüsten, dass ich noch nie eine einzige Folge Keeping Up With The Kardashians gesehen hatte, und mich auch zu keinem der vielen Spin-Offs hatte hinreißen lassen. Ich suhlte mich in meinem Unwissen, hielt das Akronym KUWTK für den Namen eines DJs und Dash kannte ich lediglich aus dem Internet, als hippen Anglizismus für den guten, alten Bindestrich. Obwohl ich eigentlich zu den Menschen gehöre, die immer eine Antwort auf alles haben wollen, habe ich es genossen, nichts über den Kardashian-Jenner-Clan, samt Anhang, zu wissen. Tyga & Blac Chyna sind orthographisch auch einfach nicht vertretbar.
Wie kam es also dazu, dass ich mich plötzlich beim Ausfüllen des Rechnungsformulars auf Kylies Kosmetikseite wiederfand? Dass ich vor meinem Computer saß, in Panik ständig die Seite neu lud, bloß um an Kylie Jenners roten Lippenstift im Farbton Mary Jo K zu kommen? Wie konnte ich das passieren lassen???
Natürlich ist es unmöglich, Kim, Khloe & Ko. vollständig zu umgehen. Doch je mehr ich von ihnen sah, desto mehr musste ich widerstehen. Man kann mich einen Kultursnob nennen, aber ich reagiere mitunter trotzig und setze Scheuklappen auf, wenn es um Dinge geht, die allzu schnell und intensiv medial überpräsent sind. Weshalb ich mich beispielsweise auch weigere, Pokémon jagen zu gehen.
Wenn ich Mädchen und junge Frauen sehe, die den Kardashian-Jenners nacheifern, werde ich traurig. Traurig darüber, dass das die Frauen sind, zu denen sie aufschauen. Was ist aus Frauen in der Musikszene geworden, Schriftstellerinnen oder Politikerinnen? War’s das? Was haben die Kardashians denn zu bieten außer makellose Selfies und kostspielige Handyspiele?
Eine Freundin von mir verfolgt die Sendung leidenschaftlich. Ich stürme regelmäßig erbost aus ihrer Wohnung, wenn sie darauf besteht, den Fernseher anzuschalten. Sie ging sogar so weit, sich den Corsagentrainer anzuschaffen, den so viele der prominenten Familie auf Instagram anwerben… Ich hatte meine Doktorarbeit über Simone de Beauvoir geschrieben, verdammt nochmal! Ich konnte mich nicht darauf einlassen, mich um Kris’ neuen Freund zu scheren oder über Scott Disicks schlechte Einzeiler zu lachen.
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Nach einer Dissertation über Simone de Beauvoir sollte ich mich jetzt für Kris Jenners neuen Liebhaber interessieren?
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Aber dann. Aber dann. Beim diesjährigen Glastonbury Festival fragte ich meine Freundin, die Kardashian-Liebhaberin, ob ich mir ihren Lippenstift borgen könnte, da ich meinen auf der anderen Seite des Festivalareals in unserem Zelt gelassen hatte. Sie bot mir das an, was sie bei sich hatte: Kylie Jenners freaking Lip Kit. Ich zögerte. „Komm schon, hab’ dich nicht so“, sagte sie. „Es ist wirklich gut, du wirst es mögen!“ Also ließ ich sie mir Kylie Jenners Mary Jo K auftragen. Sie konnte ihre ekstatische Freude kaum für sich behalten, so sehr strahlten ihre Augen, als sie mir die rote Jenner-Marke auf die Lippen schmierte.
Und dann? Ja, dann, dann war es leider gut. Wirklich gut. Fast schon weltbewegend gut. Ich war erschrocken. Das war nicht mal nur ein Gefühl oder ein Gedanke. Nein, sämtliche Freunde kamen zu mir und machten mir Komplimente. Ich wollte immer wieder verzweifelt jauchzen „Aber wir sprechen hier von Kylie Jenners Lip Kit!!!“ In meinem Inneren brach ein Vulkan aus, aber ich musste mich den Tatsachen stellen: Das Produkt war gut, und keins, das man einfach in jedem Drogeriemarkt findet. Und die Farbe hielt auch noch so lange, wie versprochen. Oh man.
Ich musste mich mit dem Gedanken anfreunden, die Taschen der Kardashian-Jenner-Dynastie noch weiter zu füllen. Das hieß, dass ich die Schönheitsideale von Frauen unterstützte, die sich sonst über Schönheits-OPs und Contouring definieren, aber ich musste diesen Lippenstift haben. Leicht verdaulich war das nicht.
Der nächste Schritt: der Kauf. Wie viele vielleicht wissen, sind die Produkte der K’s innerhalb von wenigen Minuten ausverkauft, und das jedes Mal. Als ich die Worte „Kylie Jenner Lip Kit kaufen“ bei Google eintippte, erfuhr ich gleich darauf, dass es meinen Mary Jo K nicht mehr gab. Meine zweifelhafte Misere wurde immer größer. Jetzt hatte ich mich schon einmal geschlagen gegeben, und dann das. Aber meine Freundin, das Fangirl, schwor mir, mich sofort darüber zu informieren, wenn die nächste Ladung rauskommen sollte. Sie wüsste das, schließlich folge sie dem Twitter-Account @lipkitupdate, der solche Nachrichten unmittelbar veröffentlichte.
Bereits am nächsten Tag erhielt ich die Nachricht: „Neue Lip Kits um 18 Uhr! Sei schnell!!!“
So fand ich mich also an jenem düsteren Tag vor meinem Laptop wieder, voll und ganz gewillt mein Geld einer Teenagerin zu übergeben, deren gesamter Reichtum auf Prinzipien basierte, die ich verachtete. Wenn man etwas so sehr möchte, das den eigenen Grundsätzen in seiner Gänze so widerspricht, fühlt sich das schrecklich verwirrend an. Jenner-Produkte anzuerkennen war eines dieser Dinge. Es passte nicht zu mir, nicht zu meiner „Marke“.
Ich glaube kein bisschen, dass die Kardashian-Jenners in irgendeiner Art schlechte Menschen sind. Ich wünschte mir nur, dass sie auf junge Frauen nicht ganz so viel Einfluss hätten, nicht ganz so verehrt würden, nicht in dem Ausmaß.
Aber es gibt Momente im Leben, da braucht man eben diesen phänomenalen roten Lippenstift. Und dann muss man eben auch weniger eitel damit umgehen, wo er herkommt. Glückwunsch, Kylie. Du hast mich überzeugt. Meine Lippen danken es dir.