Bis letzten Februar hatte ich in meinem Leben nur einen einzigen Lippenstift besessen. Er war knallrot, glänzend und passte überhaupt nicht zu meinem Teint – und liegt jetzt gerade ganz hinten in einer Schublade, wo ich sein grelles Grinsen vor mir versteckt habe. Und doch kann ich mich nicht dazu überwinden, ihn wegzuwerfen. Damit würde ich mir selbst eingestehen, dass ich für lange Zeit keine Ahnung hatte, wie ich die Weiblichkeit performen sollte, die von mir erwartet wurde. Und schließlich sollte jede Frau mindestens einen Lippenstift besitzen, oder? – Natürlich nicht. Make-up hat mit Gender ungefähr genauso viel zu tun wie Genitalien; es dauerte allerdings viele Jahre, bis ich das begriff. Erst nach meinem Coming-out als trans verstand ich, dass ich in der Hinsicht nicht „kaputt“ war.
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Make-up hat mich schon immer verwirrt. Als ich jünger war, konnte ich nicht nachvollziehen, warum die Mädchen in meinem Umfeld so fasziniert davon waren – oder warum alle um mich herum glaubten, ich müsste es auch sein. Ich war 11 Jahre alt, als eine meiner Freundinnen zu ihrem Geburtstag eine Umstyling-Party veranstaltete; danach wollte ich so gern Make-up tragen wollen. Ich blieb jedoch erfolglos und sah ein, dass ich wohl nie „normal“ sein würde – weil ich mich einfach beim besten Willen nicht für Glitzer-Lidschatten begeistern konnte.
Während meiner Teenagerjahre wurde ich immer wieder gefragt: Warum trägst du denn kein Make-up? Je seltener ich mich schminkte, umso erdrückender wurde der Gruppenzwang, und umso mehr schien ich meine Mitmenschen damit zu irritieren. Als ich anfing, mich mit Feminismus zu beschäftigen, war das eine große Hilfe. Ich lernte: Kein Make-up zu tragen, war eine völlig legitime Entscheidung. Aber selbst heute habe ich noch mit meinem verinnerlichten Frauenhass gegenüber „den anderen“ Frauen zu kämpfen, die eben doch Make-up tragen. Ich belächelte diejenigen, die sich gern schminkten – aus meiner eigenen Angst heraus. Ich klammerte mich an meine feministische Überlegenheit, um hinter ihr zu verstecken, wie kaputt ich mich fühlte, weil ich keinen Lippenstift trug und mir die Beine nicht rasierte – weil ich es nicht einmal wollte.
Als ich älter wurde, frustrierte es mich immer mehr, das von mir erwartete Gender performen zu müssen. Diese Performance wurde dabei immer anspruchsvoller: Ab einem gewissen Alter bedeuteten Tanzaufführungen nicht mehr Turnanzüge und Gymnastikschuhe, sondern Absätze und Netzstrümpfe. Zu dieser Zeit kaufte ich mir meinen ersten Lippenstift, dessen Nuance zu einem geborgten Rouge und Puder passte – doch alles daran fühlte sich falsch an. Wieder spürte ich: Ich war irgendwie anders.
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Was, wenn sich Make-up für mich bisher immer nur so falsch angefühlt hatte, weil die damit einhergehenden Gender-Erwartungen einfach nicht zu mir gepasst hatten?
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Auch heute noch wird auf Frauen und Menschen, die sich als feminine-of-center sehen (also sich feminin präsentieren, aber nicht unbedingt als Frauen identifizieren), ein enormer Druck ausgeübt, sich mit Make-up und Mode auskennen zu müssen. All das ging an mir allerdings völlig vorbei. Erst als ich mir selbst den Freiraum ließ, meine Gender-Identität zu erkunden, wurde ich zum ersten Mal neugierig auf Make-up. Was, wenn es sich für mich bisher immer nur so falsch angefühlt hatte, weil die damit einhergehenden Gender-Erwartungen einfach nicht zu mir gepasst hatten? Vielleicht fürchtete ich mich gar nicht wirklich vor dem Make-up an sich – sondern vor der Vorstellung des geläufigen Frauenbildes. Und vielleicht konnte ausgerechnet Lippenstift zu einem Teil meines neuen, queeren Genders werden.
Als ich nach meinem Coming-out zum ersten Mal in einer Make-up-Abteilung stand und versuchte, den passenden Lippenstift für mich zu finden, war das eine völlig neue Erfahrung. Ich trug Jeans und einen Anstecker, auf dem meine Pronomen standen („ze/hir“, die in der englischsprachigen trans Community von nichtbinären und queeren Menschen anstelle von „she/her“ und „he/him“ verwendet werden). In diesem Moment war mir völlig egal, ob mich dort jemand für eine Frau hielt – umgeben von all diesen farbenfrohen Verpackungen fühlte ich mich einfach wie ein Kind im Spielzeugladen. Ich war soweit: Anstatt mich von gesellschaftlichen Erwartungen in eine Schublade stecken zu lassen, würde ich Make-up – und insbesondere Lippenstift – von jetzt an benutzen, um mein fluides Gender auszudrücken.
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Die Einsicht, trans zu sein, hat mir den Zugang zu ebenjener Weiblichkeit ermöglicht, vor der ich mich so lange fürchtete.
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Nachdem mich jahrelang das Gefühl gequält hatte, kaputt zu sein, ist es erstaunlich, wie leicht ich es letztlich abschüttelte. Make-up hatte einst einen Aspekt des Frau-Seins repräsentiert, in dem ich immer versagt hatte; plötzlich verwandelte es sich in etwas Verspieltes, das mir Spaß machte. Heute mache ich in der Drogerie keinen weiten Bogen mehr um den Make-up-Gang und schäme mich nicht mehr dafür, die hohe Kunst des Rouge nie gemeistert zu haben. Ich begegne Make-up jetzt mit Neugier und Experimentierfreude. Meinen eigenen Style muss ich dabei noch finden – aber ohne die Last all der Erwartungen genieße ich diese Suche richtig. Die Einsicht, trans zu sein, hat mir den Zugang zu ebenjener Weiblichkeit ermöglicht, vor der ich mich so lange fürchtete.
Heute fühle ich mich nicht mehr dazu verpflichtet, genau zu wissen, wie ich Mascara richtig auftrage oder den perfekten Lidstrich ziehe. Mit Make-up fühle ich mich nicht wie eine Frau, sondern trans. Ich möchte Lippenstift tragen; gleichzeitig aber auch einen Packer (einen realistisch aussehenden Penis, meist aus Silikon) und einen Binder (ein straff sitzendes Unterhemd, das die Brust flach drückt).
Lippenstift nicht als Ausdruck meiner Weiblichkeit, sondern als Symbol meines fluiden Genders einzusetzen, ist ein starkes Gefühl. Heute macht mich Lippenstift nicht zur Frau – sondern zu einem verdammten Badass.