Als ich nach der Schulzeitungs-AG darauf wartete, abgeholt zu werden, hörte ich meinen Englischlehrer neugierig fragen „Na wen haben wir denn hier?“. Noch bevor ich mich zu ihm umdrehte, um zu sehen, wen er anschaute, kannte ich die Antwort: „Das wäre dann meine Mutter“, sagte ich. „Hola mami“, antwortet er.
Am nächsten Tag erklärte mir ebendieser Lehrer (ein in die Jahre gekommener Hippie, der sich was darauf einbildete, beim Woodstock gewesen zu sein, während die meisten gleichaltrigen Leute in seiner Stadt an jenem Wochenende im Jahr 1969 beim Gottesdienst waren), er hätte noch nie eine so schöne Frau gesehen. „Ich komme nicht schnell in Versuchung“, sinnierte er. „Ich bin seit fast 40 Jahren verheiratet. Aber für deine Mutter würde ich das alles hinter mir lassen.“
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Ich war damals 14 Jahre alt und wusste nicht wirklich, wie ich auf so einen Kommentar reagieren sollte. Wahrscheinlich habe ich einfach nur gelächelt, bin zu meinem Tisch gelaufen und habe mich gefragt, wie oft ich noch in derartige Situationen geraten würden. Wer würde sich noch alles in meine Mutter verlieben? Wie viele von ihnen würden witzeln, dass ich – ein dickes, großes Mädchen mit breiten Schultern und frizzy Haaren – bei der Verteilung der „guten Gene“ wohl zu kurz gekommen war?
Noch im selben Schuljahr machte mein Sportlehrer ähnliche Kommentare und versuchte, mit meiner Mutter zu flirten, obwohl er verheiratet war, seine Stieftochter in meine Klasse ging und all meine Mitschüler*innen nur wenige Meter entfernt von uns standen. Ein paar Monate zuvor hatte es den Leiter der Essstörungsklinik, in der ich wegen meiner Anorexie war, erwischt: „Deine Mutter ist umwerfend“, sagte er in einer der ersten Therapiesitzungen. „Ich kann verstehen, warum du dich vielleicht … unzureichend fühlst.“ Selbst meine beste Freundin (ein Mädchen, das ich sehr liebte, ohne mir dessen bewusst zu sein, weil ich in einem tiefreligiösen katholischen Haus aufgewachsen war) erinnerte mich regelmäßig daran, dass meine Mama ihr “Girl Crush“ war.
So lange ich denken kann, ist meine Mutter so schön, dass die Menschen sie einfach anstarren müssen. Sie hat unzählige Jobs und Leben in ihre reichlich 60 Jahre gepackt – eine Meisterleistung, für die ich sie lange beneidet habe. Einer ihrer ersten Jobs war als Kosmetikerin in Kolumbien, wo sie geboren wurde. Sie war schon immer sehr talentiert im Umgang mit Make-up und Haarbürsten gewesen. Wenn sie sich zurechtmachte, brachte sie die Art von Glamour zum Vorschein, die nicht gerade typisch für die Kleinstadt in New Jersey ist, in der sie mich großgezogen hat.
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Sowohl in den Staaten als auch in Großbritannien, wo ich jetzt lebe, wurde und wird sie sehr stark exotisiert. Durch das, was sie von anderen unterscheidet, scheint sie nur noch mehr Menschen in ihren Bann zu ziehen und viele sagen, ihr Akzent würde unglaublich romantisch, leidenschaftlich oder geheimnisvoll klingen. Sie hat sich mehr als einmal aus einem Strafzettel für zu schnelles Fahren herausreden können (wenn sie von männlichen Polizisten angehalten wurde), weil sie so eine liebliche Stimme hat. Ironischerweise hatte sie nie wirklich Interesse an einer ernsten Beziehung oder einer Affäre. Wenn sich das irgendwann ändern würde, würden die Verehrer sofort Schlage stehen, da bin ich mir sicher.
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Mit einer Mutter aufzuwachsen, um die, wegen ihrer Schönheit, alle herumscharwenzeln, ist eine Herausforderung, wenn du dich selbst alles andere als schön findest.
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Natürlich kann meine Mama genauso wenig für ihr Aussehen, wie ich für meins. Und trotzdem: Mit einer Mutter aufzuwachsen, um die, wegen ihrer Schönheit, alle herumscharwenzeln, ist eine Herausforderung, wenn du dich selbst alles andere als schön findest. Ganz gleich, wie viele Diäten, Sportkurse und Essstörungen ich “ausprobierte“, Kleider von ihr konnte ich mir nie ausleihen. Außerdem war mir jahrelang nicht bewusst, dass ich Locken habe! Ich dachte, ich müsste mich damit abfinden, dass meine Haare wie ein trauriges Opfer der Luftfeuchte aussehen – bis ich die richtigen Stylingprodukte entdeckte.
Ich hatte auch noch nie die Ausstrahlung meiner Mutter. Sie war das Bilderbuchbeispiel einer extrovertierten, quirligen, warmherzigen Latina, ich war schüchtern, ruhig und kämpfte mit einer Sozialphobie. Ich hasste Partys, wusste nicht, wie ich andere für mich begeistern kann und hatte kaum Interesse an Kosmetikprodukten, die man nicht im Gruftiladen um die Ecke kaufen konnte. Wenn ich andere Mütter beobachtete, fiel mir immer auf, viele von ihnen sahen ihre Tochter als eine Art Trophäe. Es gab Mütter, die ihre Tochter zur Mini-Version von sich machen wollten. Andere projizierten ihre eigenen Hoffnungen und Träume auf ihre Kinder – besonders, wenn sie das Gefühl hatten, diese für ihr Muttersein opfern zu müssen. Und manche gaben mit ihrem Nachwuchs an, wie andere mit einer neuen Handtasche; wie etwas, über das andere reden sollen und für das sie Komplimente erwarten. Wegen meines Aussehens fühlte ich mich wie der Fehlschlag meiner Mutter. Ich war keine perfekte, elegante, allseits beliebte Michael-Kors-Tasche, sondern eine klobige, komische Bauchtasche (in einer Zeit lange nach den 90ern, aber vor dem Revival). Schon klar: Manche mochten mich vielleicht für meine unkonventionelle oder schräge Art, aber die meisten würden sich im Zweifel doch für ein anderes Modell entscheiden.
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Heute, 15 Jahre später, bin ich selbst eine Mutter. Ich habe eine 3- und eine 2-jährige Tochter und der Gedanke, sie könnten sich eines Tages hässlich oder wertlos oder nicht geliebt fühlen, bereitet mir körperliche Schmerzen. Im Moment sind sie noch so unglaublich furchtlos. Sie tragen, was sie wollen, machen sich nackig, ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken, lieben es, ihre kleinen Bäuche zu streicheln und tanzen wirklich so, als würde niemand zusehen. Die Vorstellung, sie könnten diesen unbeschwerten Umgang mit ihrem Körper irgendwann verlieren – wie es viele von uns tun, wenn sie in dieser Gesellschaft aufwachsen –, bricht mir das Herz. Doch genau dieser Schmerz treibt mich (und meinen Partner) an, einen Ort zu schaffen, an dem der eigene Wert nicht von Schönheit abhängt. Wir wollen einen Ort schaffen, an dem die beiden lernen, dass es auf dieser Welt genauso viele verschiedene Arten von Schönheit gibt wie Menschen. Meine Töchter sollen wissen, die größte Erwartung, die ihre Eltern an sie haben, ist, dass sie zu freundlichen, mitfühlenden und weltoffenen Menschen werden. Sie sollen wissen, dass sie nicht meine Trophäen sind. Sie sind nicht nur ein Teil oder eine Version von mir, sondern eigenständige Individuen.
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Mir wurde erst klar, wie schön ich sein kann, als ich aufhörte, zu versuchen, so schön wie meine Mutter zu werden.
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Das klingt vielleicht nach sehr abstrakten Lehren, die viele von uns erst nach jahrelangem Verlernen ziehen können. Aber heute weiß ich: Mir wurde erst klar, wie schön ich sein kann, als ich aufhörte, zu versuchen, so schön wie meine Mutter zu werden. Und diese Erkenntnis brachte mehr Schönheit in mein Leben – in Form von echten Freundschaften, liebevollen Partnern, Karrierechancen und der Freude, die du spürst, wenn du Frieden mit deinem Körper geschlossen hast. Das ist eine Art von Freude, die ich bei meinen Kindern sehe und die ich sicher auch als kleines Kind spürte, als ich noch in einem Körper lebte, über den niemand gesagt hatte, es würde etwas nicht mit ihm stimmen.
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