Es ist total verständlich, wenn du bis heute immer dachtest, dass du dich total auslaugen musst, um fit zu werden (oder überhaupt Sport zu machen). Sprüche wie „no pain, no gain“ oder das besonders abwertende „Schweiß sind nur die Tränen von deinem Fett“ hört man genau deswegen andauernd – oder liest sie im Fitnessstudio auf Tops und T-Shirts. Wenn du an diese Weisheiten glaubst, hat das vielleicht auch mit deinen eigenen Erfahrungen zu tun. Vielleicht denkst du beim Joggen immer noch daran, wie du dich damals in der Schule mit Seitenstechen Runde um Runde um den Sportplatz quälen musstest. Vielleicht hast du dich auch irgendwann mal (als Teil deiner Neujahrsvorsätze) zu einem HIIT-Kurs angemeldet, nachdem du gerade ein paar recht entspannte Monate hinter dir hattest und dich deswegen 50 Minuten später kaum noch bewegen konntest. Vielleicht sind beides aber auch nur meine Erfahrungen. Wer weiß das schon?
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Wenn man aber Fitness-Profis und Sportpsycholog:innen fragt, ob sie die Gleichung „extreme Anstrengung = gut“ unterschreiben würden, war die Antwort eindeutig: Nein. Du musst dich beim Sport nicht komplett verausgaben, damit er dir gut tut. Bevor du dich aber zu früh freust: Es gibt ein paar Ausnahmen.
Tim Hart ist Personal Trainer im Londoner Fitnessstudio Third Space und erklärt mir: „Es ist schwer, diese Fragen zu beantworten, weil die Antworten eigentlich viele Details erfordern. Die kurze Antwort lautet: Nein. Das heißt nicht, dass anstrengender Sport nicht trotzdem gut für dich ist. Er muss dich aber nicht sämtliche Energie kosten, um effektiv zu sein.“
Die Vorstellung, Erschöpfung sei beim Workout entscheidend, lässt sich darauf zurückführen, dass unsere Gesellschaft Sport früher als Vorbereitung auf einen Kampf betrachtete, meint Andrew Lane, Professor für Sportpsychologie an der University of Wolverhampton. „Wenn wir ein paar Jahrhunderte in die Vergangenheit schauen, erkennen wir, dass Sport historisch als Mittel zur mentalen Härte galt. Ernsthafte Athlet:innen trainieren auch heute noch so hart.“ Elite-Sportler:innen müssen zum Beispiel lernen, mit Ermüdung klarzukommen und unter enormem psychologischen Druck hochintensive Leistungen zu erbringen.
Für den Rest von uns hängen die Vorteile, uns selbst an unsere Grenzen zu treiben, vom eigenen „Training-Alter“ ab, erklärt Tim. Dieses „Alter“ beschreibt, wie lange du bereits an den Grundlagen des jeweiligen Sports arbeitest. Wenn du noch ein sehr „junges“ Trainings-Alter hast, bringen dir mittelmäßig anstrengende Workouts mit niedriger Intensität am meisten. „Je weiter du voranschreitest, desto härter trainierst du. Je länger du trainiert hast, desto intensiver sollten die Workouts vermutlich sein. Aber auch das ist eine kleine Verallgemeinerung.“
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Um es kurz zu sagen: Ein wenig hohe Intensität auf deinem derzeitigen Fitnesslevel ist kurzzeitig gut. Sie sollte aber eine Ergänzung sein, nicht die Norm.
Viele Fitness-Profis wissen das. Trotzdem ist die Vorstellung, extreme Anstrengung sei am effektivsten, gerade sehr weit verbreitet. Lotti McKenna, Head of Movement beim Londoner Fitnessstudio BLOK, vermutet, das habe nicht bloß damit zu tun, dass wir gerade Januar haben – sondern damit, dass wir Januar 2023 haben. „Weil viele Fitnessstudios in den Januarmonaten der letzten Jahre keine Workout-Kurse angeboten haben, fühlt es sich gerade so an, als wollten alle direkt von 0 auf 180 loslegen.“
„In der Fitnessbranche gibt es diese Mentalität, es sei absolut richtig, im Januar total reinzuhauen“, ergänzt sie. „In gewisser Hinsicht lässt sich das nicht ändern. Ich glaube, für viele von uns fühlt sich der Januar an wie ein psychologischer Neuanfang, und das ist ja auch nicht völlig schlecht. Dabei denkt aber kaum jemand langfristig.“
Die Personal Trainerin Tally Rye hat sich auf intuitive Bewegung spezialisiert und bemerkt auch jetzt wieder das Phänomen, das sie als „Alles-oder-nichts-Kreislauf“ beschreibt. „Viele Leute fühlen sich rund um Weihnachten sehr unwohl und schuldig, weil sie sich – ihrer Meinung nach – zu viel gegönnt haben. Der Januar erscheint ihnen dann als die Gelegenheit, das wieder wettzumachen und sich von ihren Sünden zu lösen.“
„Oft entscheiden sie sich dabei für Workouts, die ihnen als ‚am effektivsten‘ oder als die ‚besten Fett-Verbrenner‘ angepriesen werden. Dabei berücksichtigen sie aber nicht, a) was ihnen eigentlich Spaß macht, b) welcher Plan für sie realistisch wäre und c) was ihr Fitness-Level eigentlich erlauben würde.“ Als Konsequenzen brennen viele von ihnen schnell aus oder hören auf, wenn sie ihr Ziel erreicht haben. Das sorgt jedoch vermutlich dafür, dass sie daraufhin wieder zunehmen und sich erneut schuldig und unwohl fühlen. Und so nimmt der Kreislauf wieder einmal seinen Lauf.
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Wie kannst du also vermeiden, in die „Alles oder nichts“-Falle zu tappen?
Zuallererst solltest du bedenken, dass verschiedene Leute unterschiedlich fit sind – selbst, wenn sie dasselbe „Training-Alter“ haben. Was für einen Menschen ein wenig intensives Zirkeltraining ist, ist für einen anderen ein hochintensives Workout. Vertraue deinem Körpergefühl dazu, was weniger oder sehr anstrengend ist – nicht der Beschreibung eines Workouts. Achte darauf, dass sich deine Workouts für dich als langfristig machbar anfühlen. Das heißt, dass du deutlich seltener ein High-Intensity-Workout machst als eines mit niedriger oder mittlerer Intensität. Nicht alles muss gleich HIIT sein.
Ich würde sogar sagen: Wenn du HIIT hasst, dann mach’s einfach nicht. Suche dir eine Bewegung, die dir wirklich Spaß macht – indem du zum Beispiel eine konventionelle Sportart wie Joggen an deine Bedürfnisse anpasst (und beispielsweise langsamer, aber regelmäßig läufst), oder etwas Ausgefalleneres wie Stepptanz ausprobierst. Tally meint dazu: „Das beste Workout für dich ist nicht das, das die meisten Kalorien verbrennt, sondern das, das du gerne machst.“
Wenn es dir dennoch schwer fällt, dich mit einem Workout wohlzufühlen, das dir nicht sämtliche Kraft abverlangt, empfiehlt Tally folgende Übung: Überlege dir anhand einer 0-bis-10-Skala, wie sich ein Training körperlich für dich anfühlt; die 0 ist dabei deine Ausgangsposition, die 10 dein Belastungs-Maximum. Sie hat festgestellt, dass die meisten Leute den Eindruck haben, die effektivste Sportart sei eine zwischen 8 und 10 – ohne zu bemerken, dass die Skala auch noch andere Zahlen zu bieten hat. Dadurch erkennst du, wie du Sport eigentlich betrachtest, und etabliert einen neuen Standard, von dem aus du deine Perspektive hinterfragen kannst.
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Von da an solltest du neutraler auf deine Workouts blicken, empfiehlt sie, und auch mal Mühen feiern, die eher in den 0-bis-5-Bereich der Skala fallen. Auf jeden Fall solltest du versuchen, dich von der Scham zu lösen, die du empfindest, wenn du das vermeintlich „effektive“ Level nicht erreichst.
„Bloß weil du immer das Gefühl hattest, Workouts mit einem Level von 8 bis 10 schaffen zu müssen, heißt das nicht, dass du versagt hast, weil du das nicht langfristig durchziehen konntest. Warum denn auch? Wenn du mehrmals pro Woche, jede Woche, so hart trainierst, wird dein Körper natürlich irgendwann feststellen, dass er das nicht mehr schafft.“
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