Victim- und Bodyshaming öffentlich zu verurteilen, gehört mittlerweile zum guten Ton – zu Recht! Vor knapp einem Jahr sagte die niederländische Beautybloggerin und Youtuberin Nikkie Tutorials außerdem auch dem „Make-up-Shaming“ den Kampf an. Was anfangs vielleicht nicht so wirkt, als würde man dafür mit Bannern und Trillerpfeifen auf die Straße gehen müssen, ist bei näherem Hinsehen doch eine wichtige Sache, über die dringend geredet werden sollte – vor allem, oder auch, von selbsternannten Feminist*innen.
Personen, die ein Faible für Make-up haben und sich regelmäßig stark schminken oder gar damit ihr Geld verdienen, wird regelmäßig die Intelligenz und die Seriösität abgesprochen. Stattdessen wird ihnen unterstellt, nur wie ein weiteres Mitglied des Kardashian-Clans aussehen zu wollen. Als Nikkie genug von den Hate-Kommentaren auf ihren Social-Media-Kanälen hatte, startete sie gemeinsam mit anderen Youtube-Influencern eine Kampagne.
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In einer Zeit, in der vieles polarisiert und gleichermaßen Lob und harsche Kritik erntet, ist auch Make-up-Shaming eine Sache, gegen die wir uns kollektiv einsetzen sollten. Nachdem in vielen, nicht weniger lobenswerten Kampagnen und auf Catwalks der Make-up-Trend zu „möglichst natürlich“ tendiert, heißt das nämlich noch lange nicht, dass das der einzige wahre Weg ist, Make-up zu tragen. Auf der einen Seite gibt es Labels wie etwa die New Yorker Kultmarke Glossier, die es geschafft hat, den No-Make-up-Looks weiter in den Mainstream zu rücken, und Beautygröße Bobbi Brown verlässt ihr Unternehmen, weil sie sich nicht weiter mit einem Brand identifizieren kann, das eine Contour-Palette herausbringen will. Auf der anderen Seite gibt es die lauten, bunten Youtuber*innen wie Huda Kattan und Patrick Starr, die eine mindestens genauso große Audience erreichen und ihre Follower tagtäglich mit ihrer Kunst und ihrem Können inspirieren. Auch Sali Hughes vom Guardian hats sich bereits auf die Seite der Make-up-Lover stellte.
Make-up wird seit jeher mit Performance verbunden. Und so macht die Youtube-Kultur des 21. Jahrhunderts aus dem Akt vor der Performance auch eine tatsächliche Performance: Vlogger*innen wie Nikkie ziehen täglich Millionen Zuschauer*innen aus der ganzen Welt an. Mit 7,2 Millionen Abonnent*innen gehört die Niederländerin zu den erfolgreicheren Make-up-Kanälen und bietet Make-up-Shaming explizite Konter: „Beautylover nutzen Make-up nicht, um sich zu maskieren oder irgendeine Unsicherheit zu verstecken, sondern weil sie den Prozess der Verwandlung lieben. Außerdem ist Make-up für viele ein Weg, der eigenen Kreativität ein Ventil zu bieten und ihre Kunst und ihr Können unter Beweis zu stellen.“
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Die meisten Tutorials beginnen zudem damit, dass sich die Proganist*innen ungeschminkt zeigen und die Routine von Anfang an vor laufender Kamera durchgehen. Primär geht es also wirklich niemandem darum, sich hinter einer Maskerade zu verbergen. Und selbst wenn es um das Kaschieren eines Makels oder einer Unsicherheit ginge, wäre das nicht die exakte Definition von Mobbing, über Personen genau deswegen herzuziehen und diese „Unsicherheit“ in den Vordergrund zu stellen? Wollen wir nicht eigentlich genau damit aufhören? Vielleicht halten Kritiker*innen viel Make-up für übermäßig eitel? Vulgär? Aufgesetzt? Egal wie wir es drehen, wir kommen immer wieder zu einem Ergebnis: Leben und leben lassen. Wenn „heavy Make-up“ Dir nicht gefällt, okay. Wenn doch, dann ist das ebenso in Ordnung.
Make-up aufzutragen hat für viele ganz einfach mit Spaß an der Freude zu tun, für Millionen von Frauen gehört es zu den liebsten Hobbys und hat mit seinen kreativen und experimentellen Komponenten fast schon ergotherapeutische Züge. Aufwändiges Make-up ist zudem schon fast eine Subkultur für sich und besteht auch schon seit Jahrhunderten. Anstatt Leute dafür also zu verurteilen, sollten kritische Lager vielleicht eher versuchen, sie für ihr Talent, ihr Können und ihre Perfektion zu feiern.
Auch wenn ich persönlich zu denen gehöre, die den No-Make-up-Trend mit offenen Armen empfangen haben, würde ich mich damit nie in der Öffentlichkeit brüsten, weil es meinen Wert oder mich als Person nicht definiert.
Unsere westliche Kultur zeigt hier im Übrigen auch schon wieder die größte Doppelmoral auf, denn genauso so wie sich über „zu viel“ Make-up beschwert wird, wird gleichzeitig immer noch über „zu wenig“ Make-up gemeckert. In gewissen Situationen nicht konventionellen Standards entsprechend geschminkt zu sein, führt weiterhin zu gehässigen Kommentaren, ganz egal ob als ungeschminkte Celebrity auf dem roten Teppich oder als stark geschminkte Politikerin, die deshalb nicht mehr ernstgenommen wird. Wer jemals „Make-up Bewerbungsgespräch“ googlet, wird auf zahlreiche Seiten gelangen, in denen ein möglichst unauffälliger, minimalistischer Look ans Herz gelegt wird, um bloß keine Erfolgschancen zu verspielen.
Mit wachsender Diversität auf allen Plattformen bleibt also nur zu wünschen übrig, dass wir ultimativ lernen, Menschen - ob geschminkt oder ungeschminkt - als ebensolche zu akzeptieren.
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