Was haben Timothée Chalamet, Harry Styles, der junge Leo DiCaprio und Brendan Fraser in Die Mumie gemeinsam? Sie alle haben unangestrengt charmante Frisuren, die fast ein bisschen schmalzig aussehen, aber trotzdem locker fallen, klar. Vor allem aber bringen sie queere und lesbische Frauen in regelmäßigen Abständen dazu, ihre sexuellen Präferenzen lange nach ihrem Coming-out doch noch einmal in Frage zu stellen. Woher ich das weiß? Weil ich eine solche Frau bin und Timothée Chalamets Frisur exakt diesen Effekt auf mich hat.
Ich liebe Timmys Haarschnitt, weil es einfach nicht anders geht. Sein genialer Wuschelkopf, der sein feingeschnittenes Gesicht krönt, hat dazu geführt, dass ich mir ernsthaft die Frage stellen musste, ob ich mich zu ihm hingezogen fühle. Dieses Gefühl hat mich aber auch vor Call me by your name schon öfter ergriffen: Früher haben mich Hugh Grant und Gerard Way, der Sänger der Emoband My Chemical Romance, glauben lassen, ich sei heterosexuell. Und erst vor zwei Jahren ging ich durch etwas, das ich nicht anders als eine Harry-Styles-Phase bezeichnen kann (mmmh, diese heißen Gucci-Anzüge…). Und obwohl ich anerkennen muss, dass sie alle auf ihre eigene Art und Weise attraktiv und talentiert sind, stehe ich, wenn ich mir die ganze Sache genauer ansehe, auf keinen von ihnen. Worauf ich tatsächlich stehe, ich kann es nicht oft genug betonen, sind Timothées wunderschöne Haare. Als The Cut dann noch schrieb, dass seine Frisur gerade das neue Ding unter queeren Frauen sei, war alles klar.
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Aber wieso genau lieben Lesben (allen voran ich) diesen Haarschnitt so sehr? Und wie kann es sein, dass dieser wuschelige Schopf mich kurz hat glauben lassen, ich sei eventuell bi? (Um das noch mal klarzustellen: Ich bin es definitiv nicht.)
Um der Frage auf den Grund zu gehen, wagte ich den Sprung ins kalte Wasser und ließ mir eine Frisur im Timothée-Chalamet-Look schneiden.
Nachdem ich mein Coming-out gehabt und die Fachausdrücke der Queer-Szene gelernt hatte, habe ich mich immer als Femme identifiziert, also als eine lesbische Frau, die, im Gegensatz zur sogenannten Butch, im Gendersinne weiblich auftritt. Viele lesbische Frauen berichten von dem befreienden Gefühl, nach ihrem Coming-out endlich die ihnen aufgezwungene Weiblichkeit und Heteronormativität ablegen zu können. Ich hingegen habe meine Weiblichkeit immer als Teil meiner Identität begriffen. Dementsprechend habe ich meine Haare auch nie kurz getragen. Das hat sich für mich persönlich nie richtig angefühlt.
Auf dem Weg zum Friseur muss ich darüber nachdenken, wie Haar in unserer Kultur gegendert wird. Haare an sich sind ja geschlechterlos und doch unterteilen wir Frisuren sehr deutlich in vermeintliche Männer- und Frauenschnitte. Männerschnitte sind in der Regel kurz und ordentlich, Frauenschnitte lang und locker. Die bewusst unordentliche, ein wenig rausgewachsen aussehende Frisur à la Timothée, die meist von im konventionellen Sinne attraktiven Männern getragen wird, bricht mit dieser klaren Einteilung. Sie spielt mit einer Weiblichkeit, die ansonsten an heterosexuellen Cismännern weder gesehen noch gefeiert wird.
Nach vierzig Minuten im Frisierstuhl habe ich hingegen das Gefühl, aus der entgegengesetzten Richtung zu kommen: Ich spiele mit einer Männlichkeit, zu der ich mich immer hingezogen gefühlt, die ich selbst aber nie verkörpert habe. Und ich finde es toll. Ich erkenne mich selbst kaum wieder und bin verwirrt, als ich mich im Spiegel ansehe. Aber nicht auf eine schlechte Art und Weise. Nach dem Friseurbesuch treffe ich mich mit Kolleg*innen. Allesamt sind sie Fans meines neuen Haarschnitts. Während ich noch ein bisschen nervös an meinem neuen Look herumzuppel, frage ich mich, wann sie endlich ihre höfliche Fassade fallen lassen und mir freundlich verpackt sagen, dass der Schnitt mir nicht steht. Das passiert jedoch nicht.
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Am nächsten Morgen wache ich auf und versuche, mich mit meiner neuen Frisur anzufreunden. Ich muss ein wenig suchen, finde dann jedoch das Call me by your name-Shirt in den Untiefen meines Kleiderschranks. Das passt heute ganz gut. Wenn ich in den Spiegel schaue, sehe ich abwechselnd Hugh Grant in Notting Hill und die lesbische Countrysängerin KD Lang. In kurzen, hoffnungsvollen Augenblicken hat mein Spiegelbild etwas von Chris von Christine & The Queens. Ich fühle mich gleichzeitig schüchtern und selbstbewusst. Als würde ich mich als die Person verkleiden, die ich gerne wäre.
Ich bin immer noch dabei, mich an meinen neuen Look zu gewöhnen. Komischerweise ist diese Frisur ein ziemlich bedeutender Schritt für mich. Äußerlich habe ich mich von einer Femme hin zu mehr, nun ja, stereotyper Lesbe entwickelt. Ich hatte mir erhofft, dass meine Haare mit dem neuen Schnitt etwas lockiger, glänzender und verwegener werden – das ist nicht passiert. Mein Haar ist leider, anders als Timothées, kein Ausnahmetalent.
Den Chalamet als It-Cut des Winters zu bezeichnen, ist sicher übertrieben. Nur scheint die breite Masse genau die Frisur, die lesbische und queere Frauen seit Jahren tragen, jetzt für sich entdeckt zu haben. Der Mädchenschwarm-Haarschnitt ist aktuell das wohl am meisten gefeierte Beispiel für aufwendige Mühelosigkeit, die gleichzeitig eine romantische Weichheit und einen coolen/heißen/zu beschäftigt mit Gedichte schreiben/in einer schlechten Indieband spielen-Vibe versprüht. Er ist schon sehr betont lesbisch. Mir über mein Haar so viele Gedanken zu machen, ist eigentlich nicht meine Art. Ich habe das Gefühl, das ist in der Regel Heterofrauen und schwulen Männern vorbehalten. Sehe ich in dieser Frisur mehr, als sie eigentlich ist? Wahrscheinlich. Und genau deswegen macht sie mir so viel Spaß.
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