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R.I.P., Traumjob: „Gut genug“ ist die Zukunft

Disclaimer: Demi identifiziert sich selbst als nicht-binär. Daher verwenden wir für Demi die Form „er:sie“ als Alternative zum englischen genderneutralen Pronomen „they“ .
Seit seinem:ihrem 18. Lebensjahr arbeitet Demi für dasselbe Geschäft, an sechs verschiedenen Standorten. Er:sie begann zunächst als Teilzeitkassierer:in, hat aber inzwischen eine Führungsrolle übernommen. „Seitdem würde ich mich als gut bezahlt bezeichnen“, sagt Demi. Die Kehrseite der Medaille sei, dass sein:ihr Arbeitsplan ziemlich unregelmäßig sein kann. Der größte Vorteil an diesem Job sei Demi zufolge aber, „dass die Arbeit gut bezahlt ist und ich sie nicht mit nach Hause nehmen muss“. Demi ist jetzt 24 Jahre alt und verdient rund 42.000 Euro im Jahr. Demi schätzt die Lebensqualität, die ihm:ihr seine:ihre berufliche Tätigkeit bietet. „Ich bin vor Kurzem umgezogen und lebe jetzt in der Nähe von einem sehr schnuckeligen Markt, der an sechs Tagen der Woche geöffnet ist. Ich kann die meisten meiner Lebensmitteleinkäufe jetzt dort erledigen, weil ich es mir nun leisten kann“, sagt Demi und fügt hinzu, dass sich sein:ihr Leben hauptsächlich darum dreht, seine:ihre Beziehung zu pflegen, bezahlte Urlaubstage anzusammeln, um Ausflüge mit Freund:innen unternehmen zu können und coole Orte in der Umgebung zu erkunden. All das ist durch seinen:ihren Job möglich: „Ich kann es mir nicht nur erlauben, all diese Dinge zu tun, sondern habe auch die Zeit und die Energie dafür“, erzählt er:sie uns. Aber nicht alle verstehen, warum Demi sich mit „gut genug“ zufrieden gibt. Demi fügt hinzu: „Es kommt mir vor, als hätte ich meinen Job von Anfang an verteidigen müssen.“
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„Die ganze Idee, dass Arbeit deinem Leben Sinn geben und dich erfüllen soll, ist ziemlich kapitalistisch und veranschaulicht, wo wir als Gesellschaft stehen“, erklärt Demi. Demi nimmt seine:ihre Arbeit nicht mit nach Hause, da sie nicht seine:ihre Leidenschaft ist oder ein Ausdruck seiner:ihrer Identität darstellt. Für Demi ist dieser Job bloß eine Notwendigkeit – ein Mittel, das es möglich macht, ein erfülltes Leben jenseits der Arbeit zu führen.
Demis Einstellung, Arbeit nur als einen Job zu sehen, ist jedoch nicht unbedingt die üblichste. Bei vielen von uns ist nämlich eher folgende Frage fest im Unterbewusstsein verankert: Wenn du nicht deinem sogenannten „Traumjob“ nachgehst, was ist dann überhaupt der Sinn deines Lebens? Unsere Arbeit erfüllt bereits seit einiger Zeit eine Doppelfunktion: Sie soll für Nahrung und Unterkunft sorgen, und außerdem auch etwas darüber verraten, wer wir wirklich sind – nicht nur am Arbeitsplatz, sondern auch im Privatleben. „Folge deiner Leidenschaft“ und „Tu, was du liebst, und du wirst so keinen einzigen Tag in deinem Leben arbeiten“ mögen vielleicht gut gemeinte Ratschläge bei der Arbeitssuche und tolle Zitate für Instagram sein, lassen es aber so aussehen, als drehe sich das Leben nur um Arbeit. Natürlich müssen wir arbeiten, um über die Runden zu kommen. Es gibt aber noch andere Dinge, die zählen. Nach diesem Motto zu leben, können sich aber viele nicht leisten, da es schwierig ist, einen gut bezahlten, aber nicht allzu aufwendigen Job an Land zu ziehen.
Demis Familie macht sich über seinen:ihren Job im Laden lustig und fragt regelmäßig nach, ob Demi denn noch dort arbeite. Das lässt ihn:sie aber kalt, denn sein:ihr Job erfüllt immer noch seine ursprüngliche Aufgabe: Dank ihm kann Demi alle Rechnungen bezahlen. Vielen von uns ist dieser Druck, den „richtigen“ Job zu finden, den wir von Familienmitgliedern und Freund:innen zu spüren bekommen, mehr als bekannt. Es gibt aber noch zahlreiche andere Faktoren, die belastend hinzukommen: Beim Studium wird von dir erwartet, eine Richtung zu wählen, die dir später auch ja einen Job einbringen wird. Die Arbeitslosenzahlen dieses Jahr stimmen alles andere als hoffnungsvoll. Wenn du ein Kind oder mehrere Kinder hast oder betreust, hast du mit zusätzlichen Hindernissen bei der Arbeit zu kämpfen. Hinzu kommt die Erwartung, dass man seinen Job lieben müsse. „Die Idee, man solle eine Arbeit anstreben, die man liebt, und die damit verbundenen Opfer hinnehmen, wird gesellschaftlich moralisiert“, sagt Dr. Erin Cech, Soziologin und Autorin von The Passion Principle: How the Search for Self-Expressive & Fulfilling Careers Reproductions Inequality. Sie erklärt, dass es vielen von uns vorkommt, uns irgendwie unter Wert zu verkaufen, wenn unsere Arbeit uns nicht erfüllt. „Warum aber soll es gerade Arbeit sein, die unserem Leben einen Sinn verleiht?“, stellt Cech in den Raum. „Diese Denkweise ist sehr begrenzt.“
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Cech konzentriert sich in ihrer Forschungsarbeit auf etwas, das sie als „Leidenschaftsprinzip“ bezeichnet. Dabei handelt es sich um die Idee, dass man bei Karriereentscheidungen Selbstdarstellung und Erfüllung priorisieren sollte. Cechs Forschung zeigt, dass du in der Lage bist, hinzunehmen, dass alle Jobs langweilige Aufgaben beinhalten, weil deine Arbeit mit deiner Leidenschaft zu tun hat und dich deshalb „erfüllt“. Weil es dir dein Job wert scheint, ist es dir möglich, die negativen Aspekte – von Überlastung bis hin zu Unterbezahlung – in Kauf zu nehmen. Cech stellt fest, dass sich durch den Einsatz des Prinzips prekäre Beschäftigungsverhältnisse verbessern lassen, da sich diese Denkweise „gegen die kapitalistische Arbeitsstruktur richtet und kollektive Forderungen nach kürzeren Arbeitszeiten, gerechterer Bezahlung oder besserer Integration von Arbeit und Privatleben in den Vordergrund rückt“. Während manche von uns noch nie in der privilegierten Lage gewesen sind, ihrer „Leidenschaft zu folgen“, ist unsere Gesellschaft auf die Suche nach „Traumjobs“ fixiert. Das hat einen großen Einfluss auf die Bedeutung von Arbeit für alle von uns.
Manchmal besteht die Schwierigkeit bei der Ausübung eines Traumberufs nicht darin, dass der Job an sich schwer zu bekommen ist, sondern eher darin, dass er nicht auf eine Weise existiert, die gerecht und nachhaltig ist. Eine 25-jährige Managerin für Vielfalt und Inklusion, die anonym bleiben möchte, sagt dazu, dass sie ihren wahren Traumjob – das Schreiben – nur freiberuflich ausführen kann. Sie schreibt also neben ihrer regulären Arbeit. Sie erklärt: „Ich denke, dass so eine Arbeitssituation sehr typisch für Schwarze Frauen ist: Ich glaube nicht, dass es unsere Traumjobs wirklich gibt.“ In der Vergangenheit hatte sie Schreib-Jobs, die sie liebte. Sie hatte aber immer das Gefühl, die Medienunternehmen, für die sie schrieb, seien nicht inklusiv genug und erlaubten es ihr nicht, über das zu schreiben, was ihr eigentlich am Herzen lag. Der Grund: Das Publikum oder die Redaktion waren überwiegend weiß. Ein Traumjob sei nicht nur gut bezahlt, sondern würde ihr auch ermöglichen, in einem vielfältigen Team und Umfeld zu arbeiten, meint sie – eine echte Seltenheit.
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Obwohl ihre derzeitige Stelle sich völlig von dem unterscheidet, was sie eigentlich machen wollte, überschneiden sich ihr jetziger Job und ein Großteil ihrer Tätigkeit im Bereich des Schreibens thematisch. Dazu gehören die Entwicklung von Methoden, um einen vielfältigeren Pool an Bewerber:innen zu ermöglichen, die Erstellung von Botschaften, die sich den Themen Vielfalt und Inklusion auf der Website des Unternehmens widmen, und das Verfassen von Stellungnahmen als Reaktion auf die Black-Lives-Matter-Bewegung und die Ermordung von George Floyd. Sie kann sich vorstellen, langfristig in dieser Rolle zu bleiben. Das Unternehmen, für das sie im Moment arbeitet, weiß, dass sie auch als freie Autorin tätig ist. „Die Stabilität und die Bezahlung find ich ehrlich gesagt sehr ansprechend“, sagt sie über ihren Job. „Ich glaube nicht, dass ich bei irgendeinem Medienunternehmen mit 25 Jahren sechsstellige Summen verdienen könnte. Jetzt werde ich für die Arbeit bezahlt, die ich auch in den Unternehmen davor geleistet habe, aber unbezahlt. Worauf ich damit hinauswill, ist, dass bei vielen Schwarzen Mitarbeiter:innen die Verantwortung für Vielfalt und Inklusion am Ende einfach auf sie selbst zurückfällt, ganz gleich, welche Rolle sie in der jeweiligen Firma spielen. Zumindest werde ich jetzt dafür bezahlt, diese Arbeit zu leisten.“
Woher kommt überhaupt das dringende Verlangen, unsere Jobs als mehr als nur Arbeit empfinden zu wollen? Das war ja nicht immer der Fall. Cech zufolge denken einige Menschen: „Wenn sowieso kein Job garantiert ist, kann ich mich genauso gut auf die Suche nach einem Job machen, der mir viel bedeutet.“ Eine kulturelle Komponente kommt auch noch ins Spiel: Laut Cech spielt eine stark individualistische Denkweise, gepaart mit kapitalistischem Antrieb und der Erwartung, identitätsrelevante Entscheidungen in allen Lebensbereichen zu treffen, hier ebenfalls eine wichtige Rolle. „Und so ist dieser Drang nach Selbstdarstellung entstanden“, sagt Cech. Sie fügt hinzu, dass der Arbeitsmarkt nicht auf unseren Wunsch nach Bedeutungsfindung ausgerichtet ist. In der Arbeitswelt dreht sich alles darum, Geld für Unternehmen und Organisationen, für die wir arbeiten, zu generieren.
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Für Content-Marketer und Autorin Tiffany, deren Einkommen zwischen rund 42.000 und 58.000 Euro pro Jahr beträgt, stellte ihr Job eine bedeutsame Gelegenheit dar: Sie ging in einer Kleinstadt zur Schule, in der Armut herrschte und deren vorhandene Infrastruktur sehr mangelhaft war. Sie schloss ihr Studium aufgrund von nicht diagnostizierten Depressionen, Angstzuständen und einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung nicht ab. Da sie keine Fahrgelegenheit hatte, musste sie einen Job finden, der in der Nähe war. „Ich gebe zu, dass der Beginn meiner Karriere sehr hart war“, erklärt Tiffany. „Ich hatte sehr wenig Geld zur Verfügung und musste ohne jegliche staatliche Unterstützung oder Gesundheitsfürsorge zurechtkommen.“ Jetzt betrachtet sie ihre Arbeit und die Fähigkeiten, die sie sich dadurch angeeignet hat, eher als Mittel zum Zweck als eine Form von Leidenschaft. „Ich habe mich in den letzten zehn Jahren völlig überarbeitet, weil sich in unserer kapitalistischen Gesellschaft alles darum dreht, was jemand denn beruflich macht“, sagt sie. Manchmal fühlt sie sich schuldig, weil sie weiß, dass einige Leute ihre Arbeit als Traumjob ansehen. Sie will aber eigentlich nur genug Geld verdienen können, um genug zum Leben zu haben und Dinge tun zu können, die sie wirklich tun will. Ihre Leidenschaft ist das Retten von Tieren. Sie setzt jetzt ihre Schreib- und Marketingfähigkeiten ein, um die Community, die sich für Tierrettung stark macht, zu unterstützen.
„Ich habe mein ganzes Leben lang, vor allem aber zu Beginn meiner 20er, den Druck verspürt, für eine Karriere kämpfen zu müssen, die scheinbar über meinen Wert als Mensch entscheiden würde“, sagt sie. „Mein Traum hat aber weder mit Produktivität noch mit Arbeit zu tun. Ich träume davon, zu Veränderung beizutragen, wo ich kann, und die Welt besser zu verlassen, als ich sie vorgefunden habe.“ Sie erklärt, dass sie sich sehr weiterentwickelt habe. „Es hat lange gedauert, das Gefühl loszuwerden, dass mein Job mich als Person ausmacht. Dafür geht es mir jetzt aber viel besser.“
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Ein gut bezahlter Job, den man vielleicht nicht unbedingt als „bedeutsam“ bezeichnen würde, scheint vielleicht sogar schon an den Haaren herbeigezogen. Es ist nämlich nicht nur die Art und Weise, wie wir Arbeit wahrnehmen, die wir verändern sollten: Nicht jede sinnvolle Arbeit wird gut oder überhaupt bezahlt und nicht alles, was einem Freude macht, sollte unbedingt zu einer Arbeits- und Einkommensquelle werden. „Ich finde es wichtig, hervorzuheben, dass der Grund dafür, dass Menschen so sehr nach Leidenschaft in ihrem Beruf suchen, darauf beruht, dass die Arbeit meist mindestens 40 Stunden pro Woche in Anspruch nimmt“, sagt Dr. Cech.
Jetzt, da der Reiz und sogar die Möglichkeit, einen Traumjob zu finden, zu verblassen scheint, re-evaluieren Arbeitnehmer:innen ihre Situation und achten verstärkt darauf, womit sie ihre Zeit verbringen und worauf sie ihre Energie richten wollen. Sie wissen, dass die Antwort auf berufliche Probleme nicht immer in einem neuen Job zu finden ist oder dass die Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben nicht immer Vorrang haben kann – obwohl von ihnen immer noch erwartet wird, ihr Leben und ihre Erwartungen ihrer Arbeit anzupassen. Uns ist jetzt klar, dass es in keiner Weise eine Form des Scheiterns ist, wenn uns unsere Karriere nicht genügend Erfüllung bringt – das sollte ohnehin nicht immer eine Arbeitsanforderung sein. Stattdessen ist es das System, das uns im Stich gelassen hat; ein System, das Einkommen und Berufsbezeichnungen mit Ehrgeiz und Wert gleichsetzt und den Arbeitnehmer:innen die Last aufbürdet, ihr Leben an der Arbeit zu orientieren, während sie sie daran erinnert, dass es im Leben nicht nur darum geht.
Es ist wichtig, dass bei der Lösungsfindung nicht von Einzelnen erwartet wird, ihre Prioritäten anders zu setzen, sagt Cech. Sie appelliert dazu, sich gemeinsam Gedanken darüber zu machen: Selbst Menschen, die ihre Arbeit lieben, sollten sich überlegen, wie sie andere Arbeitnehmer:innen in ihren eigenen Organisationen und durch soziale Bewegungen und unterstützende Gesetzgebung helfen können, sagt Cech, damit die Last, Arbeitsumstände zu verbessern, nicht nur auf diejenigen fällt, die sich ohnehin bereits dafür stark machen. Es ist aber auch wichtig zu erkennen, dass es in Ordnung ist, seine Arbeit nicht zu lieben, sondern ihr einfach gefühlsneutral gegenüber eingestellt zu sein und sie nicht als Spiegel dessen zu sehen, wer man im Inneren ist. Diesen Gedanken spiegelt Demi wider, als er:sie sagt: „Ich habe nicht einmal einen Traumjob. Ich träume nicht davon, zu arbeiten.“

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