Wir leben in einem Land, das gleichgeschlechtlichen Paaren die Ehe und die Adoption verweigert; einem Land, in dem täglich homo- und transphobe Straftaten geschehen; aber auch in einem Land, das durchaus Vielfalt zelebrieren kann und Menschen der LGBT-Gemeinden der ganzen Welt ein Zuhause wurde. Tatsächlich soll kein Land in Europa so schwul, lesbisch und trans wie Deutschland sein.
Das Berliner Meinungsforschungsinstitut Dalia Research veröffentlichte eine europaweite Umfrage: Insgesamt wurden fast 12.000 Europäer über web-basierte Geräte (also Smartphones, Tablets und Rechner) befragt. Diese Studie findet viermal im Jahr statt und wird unter anderem von der Oxford University und der Bertelsmann Stiftung genutzt:
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7,4% der befragten Deutschen definieren sich als LGBT, damit ist Deutschland die europäische Spitze im Ländervergleich.
Kann das denn sein? Die Ergebnisse sind deutlich höher als alle Zahlen, die es bisher gab. 2000 kam eine Emnid-Umfrage zu folgenden Ergebnissen: 1,3% der Männer bezeichneten sich damals als schwul, 0,6% der Frauen als lesbisch. Zur Bisexualität gibt es praktisch keine Zahlen, genauso wenig zu Trans-Personen.
Was auffällt, ist, dass sich deutlich mehr junge Menschen outen: 11,2% der Befragten zwischen 15 und 29 definieren sich als LGBT, allerdings nur 5,7% der 30-49-Jährigen.
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2016 definieren sich also fast dreimal so viele Menschen als LGBT wie noch vor 16 Jahren
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Ist Deutschland tatsächlich ein sicherer Ort für ein Coming-Out?
„Eine Erklärung für diese Zahlen könnte auch in der neuen Umfragetechnik liegen. Klassische Meinungsforschungsinstitute setzen auf Anrufe im Festnetz. Viele Menschen können da nicht offen sprechen. In dieser neuen Umfrage konnten die Befragten mobil teilnehmen, das fühlt sich noch anonymer an. Von daher bedeutet das Ergebnis nicht, dass all diese Personen bereits ihr Coming-Out hatten und frei leben", sagt Pressesprecher des Lesben- und Schwulenverbandes (LSVD) Markus Ulrich. „Grundsätzlich ist diese Studie gut, denn es wird eine gesellschaftliche Sichtbarkeit geschaffen und sich mit den Bedürfnissen von LGBT auseinandergesetzt. Für den LSVD ist die Zahl aber unerheblich, sie hat keine Relevanz auf die Wichtigkeit unserer Anliegen. Bei den Themen Diskrimierung und Grundrechte kann es nicht darum gehen, wieviele Menschen es betrifft. In Deutschland soll jeder gleich an Würde sein."
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Tatsächlich steigen die Angriffe auf die LGBT-Gemeinde. Laut Aussage des Parl. Staatssekretär beim Bundesminister des Innern Dr. Ole Schröder wurden bis Ende September 2016 205 politisch motivierte Straftaten mit dem Unterthema sexuelle Orientierung gemeldet. 2015 waren es im vergleichbaren Zeitraum 171 entsprechende Straftaten.
„Straftaten gegen Lesben, Schwule, bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche Menschen gehören in Deutschland zum Alltag. Täter und Täterinnen zielen darauf, LSBTI aus dem öffentlichen Raum in die Unsichtbarkeit zu treiben. Das Opfer wird dabei als Repräsentant/in für eine (zugeschriebene) Gruppe angegriffen, d.h. die Tat richtet sich gegen die ganze Community", sagt Helmut Metzner, ebenfalls Sprecher des Lesben- und Schwulenverbandes (LSVD). „Ein Bund-Länder-Programm ist notwendig, um endlich ein realitätsgenaues polizeiliches Lagebild über das Ausmaß homo- und transphober Gewalt in Deutschland ermöglichen. Es soll zielgenaue Maßnahmen zur Prävention, Aus- und Fortbildung bei Polizei und Justiz umfassen. Homo- und Transphobie müssen auch in der Hasskriminalitätsgesetzgebung ausdrücklich benannt werden. Bislang wird dieses Motiv dort tabuisiert. Das behindert eine angemessene Sensibilisierung bei Polizei und Justiz." Markus Ulrich fügt hinzu: „Was man erleben kann, ist eine sehr starke Polarisierung. Die Gesellschaft erlebt eine Spaltung der Menschen, die keine Vorurteile und Vorbehalte haben und denen, die immer lauter werden."
Die „Leipziger Mitte Studie 2016“ bestätigt die traurige Realität: Rechtspopulismus, Rassismus und feindliche Einstellungen gegenüber Lesben und Schwulen sind aktuelle Probleme in Deutschland. Allein 40,1 % der Befragten finden es „ekelhaft“, wenn sich zwei Männer bzw. zwei Frauen öffentlich küssen.
Der LSVD fordert deshalb Artikel 3, Absatz 3 im Grundgesetzbuch, endlich um das Merkmal „sexuelle Identität“ zu erweitern – damit wir auch in Deutschland davon sprechen können, dass niemand aufgrund seiner sexuellen Identität benachteiligt oder bevorzugt werden darf. Denn bis heute sind Lesben, Schwule, trans- und intergeschlechtliche Menschen nicht in unserem Grundgesetz berücksichtigt.
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„Wir meinen, dass gerade in unserer heutigen pluralistischen Gesellschaft die Klarstellung im Grundgesetz besonders wichtig ist, dass auch Minderheiten die gleichen Rechte haben und von der Mehrheitsgesellschaft nicht diskriminiert und benachteiligt werden dürfen. Dabei geht es nicht um Sonderrechte, sondern um Gleichstellung", so Markus Ulrich.
Was ihn ebenfalls an der Dalia-Studie überrascht: Die Verteilung von LGBT zwischen Stadt und Land in Deutschland ist weniger signifikant wie vermutet. Offenbar flüchten weniger LGBT-Menschen aus den Dörfern in die großen Metropolen. 7,6% der sich selbst als LGBT-identifizierenden Personen leben in der Stadt und doch 6,8% auf dem Land. „Großstädte sind internationaler und die LGBT-Szene fühlt sich hier oft freier und angesprochener als auf dem Land. Daher hätte ich diese Zahlen nicht erwartet."
All diese Statistiken und Zahlen führen nicht zu einem eindeutigen Gefühl: Die Realität befindet sich gerade zwischen Hetzparolen und schillernden Feiern am Christopher Street Day. Wie queer Deutschland wirklich ist, kann sich erst zeigen, wenn die Bedingungen für alle Menschen gleich sind. Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes hat 2017 zum Themenjahr „Gleiches Recht für die Liebe" deklariert. Auch diese Stelle hat nun eine brandneue Studie veröffentlicht, die mit einem Aspekt positiv in die Zukunft blicken lässt: 90 Prozent der deutschen Bevölkerung befürwortet die Akzeptanzförderung sexueller und geschlechtlicher Vielfalt an Schulen.
Auf freie und tolerante Generationen nach uns!
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