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Tinder als Egobooster nutzen – ist das okay oder gemein?

Foto: Natalia Mantini
Match Nummer 659 (eventuell wurde an dieser Stelle leicht übertrieben) sieht vielversprechend aus. Er hat weder ein Foto mit nacktem Oberkörper, noch eins, auf dem er irgendeinen Extremsport betreibt, auf seinem Profil. Er mag die gleichen Sachen wie ich, ist witzig und interessant und auch sonst scheint dies ein match made in heaven zu sein. Wir verstehen uns gut und es läuft prima. Wir schreiben uns jetzt seit drei Tagen, die Gespräche waren anfangs locker und werden immer tiefgründiger, es ist fast so, als würden wir uns ewig kennen. Wir gestehen uns unsere Schwächen und prahlen mit unseren Stärken. Wir erzählen uns von unserem Alltag. Wir malen uns aus, wie es bei unserem ersten Date sein wird. Er kann es kaum erwarten. Trotzdem werde ich ihn nicht treffen. Niemals. Ich stelle mir nicht vor, wie unsere Kinder einmal aussehen werden und frage mich auch nicht, ob meine Mutter ihn wohl mag, denn es ist mir ehrlich gesagt ziemlich schnurz. Mir ist gerade eh alles egal, denn ich habe Liebeskummer. Wieso ich dann auf Tinder abhänge? Na, ganz bestimmt nicht, um mir das nächste Date klarzumachen oder die Liebe meines Lebens zu finden (ist überhaupt irgendjemand aus diesem Grund auf Tinder?).
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Tinder als Egobooster – ist das okay oder gemein?

Grausam, könnte man meinen. Auch ich bin nicht stolz auf das, was ich da gerade abziehe. Ein vorsichtiges Nachhaken im Freundeskreis zeigt aber schnell, dass ich nicht die einzige bin, die Tinder nach einer Trennung als Egobooster nutzt. Es ist ja nicht so, dass mir das nicht bewusst wäre. Nö, ich weiß ganz genau, was ich da mache, und trotzdem kann ich es nicht lassen. Es ist fast so, als sei ich liebessüchtig. Spätestens am dritten Tag nach einer Trennung, nachdem ich 20 Minuten auf dem Klo gesessen und geweint habe – wieso ich beim Pipimachen immer weinen muss ist eine GANZ andere Geschichte – lade ich die App wieder auf mein Handy. Schnell ablenken, schnell wieder Bestätigung bekommen.
Es ist doch so, dass eine Trennung ziemlich schlecht fürs Selbstbewusstsein ist. Besonders wenn man diejenige ist, die verlassen wurde. Da will jemand nicht mit mir zusammen sein, ich bin nicht gut genug, da draußen gibt es absolut niemanden, der*die mich liebt und überhaupt werde ich einsam und allein sterben. Das ist natürlich alles totaler Quatsch, da draußen gibt es tausende Menschen, sehr viele davon sehr toll, davon wiederum sind eine beachtliche Anzahl Singles. Man muss nur den Kummer überwinden, sich den Staub abklopfen und wieder daten. Das dauert allerdings etwas, Wochen oder gar Monate, je nachdem wie intensiv die gescheiterte Beziehung war. In der Zeit, in der ich noch nicht bereit für einen neuen Menschen in meinem Leben bin, benutze ich daher Tinder, um mich besser zu fühlen. Ich nenne das emotionalen Rebound, da ich mir zwar keine körperliche Wärme, aber dafür seelische Nähe erschleiche. Ich flirte, ich mache Hoffnungen und ich hole mir Bestätigung. Da will mich jemand, wie toll! All der Schmerz, den ich durch die vorausgegangene Ablehnung erfahren habe, ist wie vergessen. Es ist fast so, als gäbe es die Trennung und den Kummer nicht, schließlich date ich ja quasi all diese neuen Menschen, also theoretisch. Praktisch sitze ich alleine auf dem Sofa und habe gerade drei Leuten die gleiche Geschichte geschrieben. Traurig.
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Ich nenne das emotionalen Rebound, da ich mir zwar keine körperliche Wärme, aber dafür seelische Nähe erschleiche

Ich finde es nicht gut, was ich da mache, trotzdem mache ich es. Weil es mir hilft und weil ich es nie übertreibe und nach wenigen Tagen ganz ehrlich sage, dass ich mich doch nicht treffen möchte. Manchmal bleiben diese neuen Menschen dann in meinem Leben und wir in Kontakt. Manchmal ziehen sie weiter, und das ist auch okay.
Die Sache ist nur die, dass ich, obwohl es mir so sehr hilft die unfassbar schlimme Zeit des Kummers zu überwinden, diesen emotionalen Rebound nicht mehr nutzen werde. Online-Dating ist so kompliziert und kann ziemlich gemein sein und ich möchte es nicht komplizierter machen, als es schon ist. Ich habe eh das Gefühl, dass sich ungefähr die Hälfte der Leute auf Tinder nur dort angemeldet haben, um sich manchmal etwas besser zu fühlen und einfach mal zu gucken. Irgendwie mag ich kein Teil mehr davon sein. Also sitze ich, gerade frisch getrennt, diesmal heulend auf dem Klo und halte es aus. Ich spreche mir selber Mut zu und suche Trost bei Freunden und bei Netflix. Und wenn ich wirklich bereit bin, mich mit jemandem zu treffen, dann werde ich eventuell wieder nach rechts wischen.
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