Während meiner ersten Woche an der Uni vor vielen Jahren ging ich mit einem Typ aus, dessen Bett sich parallel zu einem verspiegelten Kleiderschrank befand. Einmal, als wir Sex hatten, ertappte ich mich dabei, wie meine Aufmerksamkeit von seinem Gesicht zu meinem Spiegelbild wanderte.
„Gefällt dir das?“, fragte er.
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich fühlte mich gedemütigt. Immerhin hatte er mich dabei erwischt, als ich mich beim Genießen einer Erfahrung beobachtete, für die Frauen oft kritisiert werden.
Der Vorfall mit dem Spiegel schien unbedeutend zu sein. Dennoch fühlte ich mich durch seine Frage entblößt, als wäre er bei einem privaten Moment hineingeplatzt. Das war natürlich ironisch, da wir gerade miteinander geschlafen hatten. Ich war entsetzt, dass er dachte, ich fände mich attraktiv genug, um mich beim Sex anzustarren. Außerdem brachte es mich aus der Fassung, dass mich mein Spiegelbild so faszinierte.
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Ich vergrub die Erinnerung an diese Nacht – vielleicht aus Scham, vielleicht aus Verwirrung. Wahrscheinlich hatte ich die ganze Sache bloß unnötig aufgebläht. Deshalb schob ich die Gedanken an diese Erfahrung beiseite und hatte nicht vor, sie jemals wieder in mein Gedächtnis zu rufen. Doch dann kam Corona und damit die Lockdowns.
Für mich war diese Zeit ungemein unsexy. Ich musste wieder zu meinen Eltern ziehen. Um mein Studium beenden zu können, war ich also ständig damit beschäftigt, Aufsätze über unterdrückte viktorianische Romane zu schreiben, während ich umgeben von Kuscheltieren und dem eingerahmten Coldplay-Tour-Poster meiner Eltern war. In einer Zeit, in der ich eigentlich Minikleider von Zara hätte tragen und Männer in Clubs aufreißen sollen, war ich wieder bei meiner Familie, wo die einzige Action, die auf mich wartete, ein morgendliches Work-out war.
Da ich aufgrund der Corona-Regeln vorerst auf allzu viel körperlichen Kontakt mit anderen Menschen verzichten wollte, musste ich auf die digitale Schiene wechseln. Bald merkte ich aber, dass es mir mehr Spaß machte, provokante Fotos von mir im Spiegel zu machen, als sie von Männern zu bekommen. „Jetzt geht das schon wieder los: ich und der Spiegel“, dachte ich und war extrem verwirrt.
Ich verstand nicht, wie ich mich in einer Zeit, in der Friseursalons geschlossen waren und ich tagein tagaus elastische Hosen trug, sexy finden konnte und – was noch seltsamer war – so sexy, dass es die Anziehungskraft, die ich jemand anderem gegenüber empfand, in den Schatten stellte. Also wandte ich mich eines Tages – zwischen dem Klatschen für Corona-Held:innen und dem Bestellen von wiederverwendbaren Masken bei Etsy – an Google, um aus meiner Erfahrung schlau zu werden. Der Begriff, auf den ich dabei stieß, war „Autosexualität“.
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Menschen, die sich als autosexuell identifizieren, fühlen sich oft mehr durch sich selbst als durch Partner:innen erregt. Deshalb kann es sein, dass sie Selbstbefriedigung penetrativem Sex vorziehen. So oder so genießen sie sexuelle Erfahrungen, bei denen sie sich selbst im Spiegel beobachten können. Für Autosexuelle ist Masturbation im Allgemeinen eine befriedigendere Erfahrung als Sex mit einer anderen Person. Das bedeutet aber nicht, dass sie nicht auch ihre Partner:innen befriedigen wollen und Sex mit ihnen genießen können.
Das soll nicht heißen, dass Autosexuelle keine erfüllenden sexuellen Beziehungen mit Partner:innen haben können, denn Autosexualität weist ein breites Spektrum auf. Manche autosexuellen Personen bevorzugen ausschließlich private und eigenständige sexuelle Erfahrungen. Andere werden zwar durch ihre eigenen Nacktfotos oder ihr eigenes Stöhnen beim Sex erregt, fühlen sich deshalb aber keinesfalls weniger zu ihren Partner:innen angezogen.
Ein weiteres großes Missverständnis (und vielleicht der Grund, warum ich mich bei dem Vorfall mit der verspiegelten Kleiderschrank so unwohl fühlte) ist, dass Autosexualität gleichbedeutend mit Narzissmus ist. In Wirklichkeit tauchen autosexuelle Tendenzen sogar an Tagen mit geringem Selbstvertrauen auf. Es ist mir peinlich, zu sagen: „Ich fühle mich sexuell zu mir hingezogen“, wenn ich mich nicht attraktiv genug fühle, um mich zu mir selbst hingezogen zu fühlen. Das hängt aber mit der allgemeinen Misogynie in Hinblick auf weibliche Lust zusammen.
Wir leben in einer Kultur, in der Frauen, die auch nur einen Hauch von Selbstvertrauen, Selbstliebe oder Akzeptanz zeigen, als eitel abgestempelt werden. Das wiederum führt dazu, dass weibliche Lust tabuisiert wird. Natürlich ist Autosexualität nicht ausschließlich eine weibliche Erfahrung. Bei Männern verursacht sie für gewöhnlich aber weniger Schuldgefühle, da sie normalerweise anders erzogen werden als Frauen.
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Sobald ich erfuhr, dass es ein Wort gab, das beschrieb, wie ich mich fühlte – und durch das ich mir jetzt sicher sein konnte, dass ich keine Narzisstin war –, nutzte ich die Lockdowns, um meine Autosexualität zu erforschen und meine verinnerlichte Angst vor meiner eigenen Lust abzulegen.
Seitdem die Lockdowns aufgehoben worden sind, bin ich gleichzeitig aufgeregt und nervös, wann immer ich mich verabrede. Die Aufregung rührt daher, dass ich mich nicht mehr darum sorgen muss, Männer zu beeindrucken, weil ich mich sexuell befreit fühle. Immerhin weiß ich jetzt, dass ich immer mit mir selbst nach Hause gehen kann, sollte ein Date nicht gut laufen. Nach Jahren in patriarchalischen, co-abhängigen Beziehungen fühlt sich diese Freiheit so erfrischend an.
Ich bin nervös, weil unsere Gesellschaft das männliche Vergnügen priorisiert; sogar Pornos enden, sobald der Mann gekommen ist. Deshalb mache ich mir Sorgen, dass sich zukünftige Partner:innen durch meine Autosexualität eingeschüchtert fühlen könnten. Aus diesem Grund habe ich bisher noch nicht offen darüber gesprochen, aber meine Einstellung zum Sex ist prinzipiell viel positiver geworden. Meinen Körper zu kennen, hat mein Selbstvertrauen gestärkt und mir dabei geholfen, besser zu kommunizieren. Entscheidend ist, dass ich mich nicht mehr schuldig fühle, wenn meine Aufmerksamkeit von meinen Partner:innen abschweift, während wir intim sind.
Ich freue mich auf den Tag, an dem ich meine Autosexualität vollständig in mein Sexleben integrieren kann. Bis dahin genieße ich diese neu gefundene Selbstständigkeit. Als Frau fühlt sich das Übernehmen der Verantwortung für meinen Körper und dessen Triebe wie etwas an, das ich brauchte, um Jahre voller enttäuschender sexueller Erfahrungen mit Männern zu überwinden. Autosexuell oder nicht, die Lockdowns haben mich gelehrt, dass die wichtigste Beziehung die zu dir selbst ist.
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