Früher dachte ich immer, Romantik sei unvermeidlich. Wie der Eintritt in die Pubertät war eine Beziehung für mich immer so eine Art Meilenstein, den jede:r irgendwann erreicht. Jeder Jugendroman, jede TV-Serie, jeder Film befeuerte diese Vorstellung nur weiter. Romantische Liebe in all ihren Ausprägungen wird in so vielen Kulturen gefeiert, dass es mir als Jugendliche nicht mal in den Sinn kam, dass sie vielleicht nicht jede:r erlebt.
Und doch bin ich hier: Ich bin 27 Jahre alt und hatte noch nie eine Beziehung – weder in romantischer noch körperlicher Hinsicht. In jeder Kategorie habe ich bisher 0 Punkte gesammelt.
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Vor nicht allzu langer Zeit wäre es mir viel zu peinlich gewesen, meinen Immer-schon-Single-Status selbst Freund:innen gegenüber laut auszusprechen, geschweige denn Fremden im Internet davon zu erzählen. Meine fehlende Beziehungserfahrung fühlte sich wie ein peinliches Geheimnis an, wie eine Art Versagen, wegen dessen ich mich immer fragte: Stimmt was nicht mit mir?
Ich bin in einem konservativen, muslimischen Haushalt in einer Kleinstadt in einem größtenteils muslimischen Land aufgewachsen. In meiner Schule wurden die Klassen nach Geschlechtern aufgeteilt; trotzdem beobachtete ich immer wieder, wie auf den Fluren und online schüchtern geflirtet wurde. Jungs und Mädchen lugten vorsichtig um Ecken, um ihre Schwärme anzuhimmeln, und pflegten aufkeimende Beziehungen auf Facebook. Ich lächelte und unterstützte meine Freund:innen, wenn sie von ihren Verknalltheiten und Partner:innen erzählten und lebte quasi durch ihre Erfahrungen. Wenn ich aber mal über meinen eigenen Beziehungsstatus nachdachte, wurde ich ein bisschen nervös. Ich schob es auf jugendliche Unbeholfenheit, schob die Gefühle beiseite und stellte mich geduldig darauf ein, mich irgendwann schon noch zu verknallen.
Die Oberschule kam und ging allerdings, ohne dass sich meine erste Liebe einstellte. Ich war enttäuscht, machte mir aber noch keine großen Sorgen. Vielleicht war meine erste Romanze einfach nichts für die Schulzeit, redete ich mir selbst ein. Also akzeptierte ich einfach, dass das Leben in einer Kleinstadt im Haus meiner konservativen Eltern dafür verantwortlich war, dass ich bisher noch nicht erlebt hatte, was ich hätte erleben sollen. An der Uni, nahm ich mir vor, würde ich genau diese Erfahrungen auskosten, die alle jetzt schon gemacht hatten.
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Aber selbst im Studium passierte nichts. Während meine Freund:innen allmählich von ihren Schulbeziehungen zu erwachseneren Liebschaften übergingen, bekam ich immer mehr das Gefühl, abgehängt zu werden. Ich hatte Angst, dass ich etwas Großes verpasste, weil ich nicht datete, experimentierte, keine One-Night-Stands hatte oder mich ver- und entliebte – als würde ich kein erfülltes Leben leben. Ich konnte mich aber trotzdem nie dazu bringen, selbst nach der Romantik zu suchen oder sie einzuladen, und weil ich inzwischen so viele der einschränkenden Überzeugungen abgelegt hatte, die mich zurückgehalten hatten, verstand ich einfach nicht, was hier schief lief.
Manchmal zerbreche ich mir so sehr über mein (fehlendes) Liebesleben den Kopf, dass ich kaum an etwas anderes denken kann. Einmal war es so schlimm, dass ich bei einem Treffen mit Freund:innen in meiner Heimatstadt von einer Verliebtheit erzählte, die es gar nicht wirklich gab, einfach damit ich mal was Normales zum Gespräch beitragen konnte. Ich hatte es satt, mich wie eine Langweilerin zu fühlen; niemand sprach mich je darauf an, aber ich spürte doch, wie enttäuscht meine Freund:innen darüber waren, dass ich nie ein Beziehungs-Update vorzuweisen hatte. Das meinten sie natürlich nicht böse, aber ich fühlte mich danach immer unvollständig, erfolglos, mangelhaft.
Nach der Uni versuchte ich es dann mit diversen Dating-Apps: Bumble, Tinder, Minder (dem muslimischen Tinder), und sogar mit einer speziellen App, die für Introvertierte entwickelt wurde. Es fühlte sich aber irgendwie fake und erzwungen an, diese Apps zu benutzen – so ähnlich, wie es mir früher mit religiösen Praktiken gegangen war. Anstatt hiermit jetzt aber „nur“ meine Eltern und meine Community zufriedenstellen zu wollen, swipte ich, um den Normen einer globalen Gesellschaft zu entsprechen. Die meiste Zeit verbrachte ich aber damit, mein Profil zu überarbeiten, um damit meinen Kern am besten widerzuspiegeln. Ein paar Matches hatte ich, ließ die meisten aber auslaufen, und obwohl ich auch mit ein paar nett wirkenden Leuten chattete, löste die Aussicht auf ein echtes Treffen bei mir mehr Stress als Vorfreude aus. Schließlich löschte ich alle Apps auf einmal.
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Etwa zu der Zeit wurde mein innerer Monolog zu meinen fehlenden Beziehungen immer brutaler. Bin ich eine Versagerin?, fragte ich mich. Bin ich komisch? Stimmt etwas nicht mit mir, oder bin ich aus irgendeinem Grund nicht liebenswert? Bin ich vielleicht emotional unterentwickelt? Ich war neidisch – nicht auf die Beziehungen meiner Freund:innen, sondern darauf, dass ihnen das Verlieben und Flirten und Daten scheinbar so leicht fiel. Ich beneidete andere sogar um unerwiderte Liebe; ich wollte einfach irgendwas fühlen. Um mein Desinteresse zu rechtfertigen, suchte ich verzweifelt nach einer Erklärung. Bin ich asexuell? Demisexuell? Halten mich ein schwaches Selbstbewusstsein oder soziale Ängste davon ab, mich „zu öffnen“? Spielt die Religion hier eine Rolle?
Diese Gedanken drehten sich in meinem Kopf, zusätzlich befeuert von der Frustration meiner Familie darüber, dass ich immer wieder potenzielle arrangierte Ehen ausschlug. „Triff sie doch wenigstens mal“, meinten meine Eltern dann. „Hast du keine Angst davor, später alleine zu sein?“
Meistens bekam ich durch diese Fragen das Gefühl, etwas stimme nicht mit mir. Eines Tages kam mir aber ein anderer Gedanke: Mache ich mir überhaupt Sorgen darum, alleine zu bleiben? Direkt nachdem mir diese Worte durch den Kopf geschossen waren, stellte ich mir eine weitere Frage: Ist das denn der einzige Zweck einer Beziehung – später mal nicht alleine zu sein?
Während meiner Teenie-Jahre hatte ich damit gerechnet, mir eine Beziehung zu wünschen; während meiner Jahre als junge Erwachsene hatte ich mir gewünscht, mir eine Beziehung zu wünschen. Dabei hatte ich aber nie innegehalten, um mal darüber nachzudenken, was eigentlich danach passieren würde – also, nachdem ich einen Partner gefunden hatte. Sobald ich mir jetzt aber überlegte, wie genau ich mir meine Zukunft eigentlich vorstellte, wurde mir klar: Ich konnte gar nicht behaupten, mein Leben und all seine Momente mit jemandem teilen zu wollen.
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Ich habe mir schon immer gerne mein Traumleben ausgemalt. Als Kind verbrachte ich Stunde um Stunde damit, mir vorzustellen, Schriftstellerin zu sein – wie es sich anfühlen würde, meinen Namen irgendwo abgedruckt zu lesen, über andere Menschen zu schreiben, Geschichten zu kreieren und Leser:innen damit zu berühren. Schließlich setzte ich meinen Traum in die Realität um, stellte aber irgendwann fest, dass der 8-Stunden-Tag nichts für mich war. Also erträumte ich mir, Freelancerin zu sein – und zog das wieder durch. Später war es mein Wunsch, alles zusammenzupacken und auf einen anderen Kontinent zu ziehen. Da bin ich gerade dabei.
Was Beziehungen angeht, habe ich aber nie viel herumfantasiert. Ich habe mich zwar gefragt, wie es sich wohl anfühlen würde, mit jemandem intim zu werden – habe aber nie Stunden damit verbracht, es mir wirklich vorzustellen, es mir zu wünschen. Stattdessen dachte ich über Beziehungen nach, wie ich beispielsweise auch Fallschirmspringen betrachten würde: als etwas, das ich für die Erfahrung machen würde, oder weil es von mir erwartet würde, oder weil ich nichts verpassen wollen würde – nicht, weil ich es wirklich tun wollte.
Letztlich wurde mir eine simple Wahrheit bewusst: Ich habe mir nie eine echte Beziehung gewünscht. Diese Tatsache hatte schon immer in mir geschlummert und nur darauf gewartet, von mir erkannt zu werden. Meine frühe Unruhe und Passivität, was Beziehungen anging; meine Unfähigkeit, mich denselben Erfahrungen zu öffnen, die andere so bereitwillig erlebten; meine vielen „Neins“ zu meinen Eltern, wann immer sie mir einen Partner vermitteln wollten – all das ließ sich plötzlich erklären. Während ich lernte, „Was ich mir wünsche“ von „Was ich glaube, mir wünschen zu sollen“ voneinander zu trennen, wurde mir alles immer klarer. Ich fand heraus, was ein erfülltes Leben für mich bedeutete, indem ich verstand: „Allein“ heißt nicht zwangsläufig „einsam“, und die fiktiven Beziehungen, die ich als Ideal betrachtete, ließen sich so in der Realität gar nicht finden.
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Die Gesellschaft hält hartnäckig an der Illusion fest, eine Beziehung sei ein fester Bestandteil des Lebens, und auch die Popkultur zwängt Frauen, die freiwillig Single sind, meist in eine von drei Kategorien: 1) das selbstbewusste, sexuelle Wesen, 2) die elegante, aber verletzliche Witwe oder anderweitig traumatisierte Frau, und 3) die einsiedlerische, einsame, traurige Frau. Muss ich mich unbedingt mit einem dieser Modelle identifizieren, um mich selbst zu rechtfertigen?
Der weit verbreitete Glauben, eine Beziehung sei der Schlüssel zum Glück, durchzieht unsere Gesellschaft aber leider schon seit Jahrhunderten. Laut der griechischen Mythologie wurden Menschen mit vier Armen, vier Beinen und einem Kopf mit zwei Gesichtern erschaffen. Der griechische Gott Zeus fürchtete, unsere Zufriedenheit und Stärke würde uns davon abhalten, ihn zu vergöttern – also zerteilte er uns in der Mitte und verurteilte uns dazu, einen großen Teil unseres Lebens damit zu verbringen, unsere „andere Hälfte“ zu finden. Ich fühle mich mit meinen zwei Armen, zwei Beinen und einem Gesicht aber schon ganz. Und obwohl ich mir deswegen trotzdem manchmal wie eine Exzentrikerin vorkomme und mir wünschte, ich hätte eine perfekte Erklärung dafür, dass ich eben nicht daten will, habe ich beschlossen: Es macht ungefähr genauso wenig Sinn, mich dafür fertig zu machen, wer ich bin, wie dafür, dass ich nicht ein paar Zentimeter größer bin. Ich wurde einfach nicht so geschaffen.
Hier bin ich also: Ich bin 27 Jahre alt, hatte noch nie irgendeine Art von Beziehung und weiß auch nicht, ob sich das jemals ändert. Vielleicht ja – aber ich habe es satt, darauf zu warten, von der Form von Liebe überrumpelt zu werden, die mich angeblich in meinen Grundfesten erschüttern und vervollständigen soll. Natürlich bereue ich vieles in meinem Leben – aber mein Beziehungsstatus gehört definitiv nicht dazu.
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