Ich war 25 Jahre alt, als ich mich mit der Möglichkeit anfreundete, als Jungfrau zu sterben. Es war im März 2020, rund um den Globus wurde die Pandemie mit jedem Tag schlimmer und selbst etwas Alltägliches wie der wöchentliche Supermarkteinkauf plötzlich zur Gefahr. Und ich musste einsehen, dass ich es wohl nicht mehr schaffen würde, vor dem richtigen Ausbruch der Coronakrise zum ersten Mal Sex zu haben.
Meine Keuschheit war keine Absicht, zumindest nicht im traditionellen Sinn. Mit Religion hatte sie nichts zu tun, und ich wollte auch nicht bis zur Ehe warten. Es hatte sich einfach nie ergeben – und irgendwann erlosch auch meine Hoffnung darauf, dass es jemals dazu kommen würde. Ohne eine plausible „Entschuldigung“ für meine fehlende sexuelle Erfahrung fühlte sich das Ganze für mich mitten in meinen 20ern wie ein persönliches Versagen an, wie eine Bestätigung dafür, dass ich nicht begehrenswert war. Je mehr Zeit verging, desto unsicherer wurde ich, bis ich mich für meine Jungfräulichkeit irgendwann in Grund und Boden schämte.
WerbungWERBUNG
Meinen Freund:innen und meiner Familie vertraute ich mich nicht an; es war mir einfach zu peinlich. Kam es dann doch mal zu so intimen Gesprächen, ging ich direkt in die Defensive und beharrte darauf, ich sei einfach zu beschäftigt für die Suche nach einem Freund. Hinter dieser Ausrede verbarg sich aber jede Menge Angst. In Wahrheit hatte ich mich komplett aus der Dating-Welt zurückgezogen. Ich hatte weniger Probleme mit der Gewissheit, auf unbegrenzte Zeit Single zu bleiben, als mit der Vorstellung, mit einem Partner ehrlich über das Thema Sex zu sprechen. Vor dem Akt an sich fürchtete ich mich nicht – mehr davor, wie meine fehlende Erfahrung bei meinem Gegenüber ankommen und was er hineininterpretieren könnte.
Seit dem Beginn der Pandemie sind inzwischen allerdings viele Monate verstrichen, und als sich die Welt im gelockerten Lockdown auf einen echten Summer of Love einstellte, wurde mir klar: Corona hatte meinen Blick auf meine Jungfräulichkeit komplett auf den Kopf gestellt.
Das hatte mehrere Gründe. Zuallererst hatte uns die Pandemie jede Menge größerer Sorgen vor die Füße geknallt – und damit meine ich nicht „bloß“ Gesundheitsängste. Im Guten wie im Schlechten war 2020 für die meisten von uns ein augenöffnendes Jahr, das Freundschaften und Beziehungen vertiefte oder zerstörte und uns neue Seiten an vertrauten Gesichtern zeigte, die wir sonst nie erkannt hätten. Vielen fiel es schwer, das neue Verhalten von Leuten zu akzeptieren, die wir gut zu kennen glaubten – zum Beispiel, wenn sie sich über Bewegungen wie Black Lives Matter lustig machten, Querdenker-Memes posteten, in Verschwörungstheorien abtauchten, Long COVID oder den Klimawandel leugneten. Verglichen mit diesen Charakter-Erkenntnissen kam mir mein „großes Geheimnis“ plötzlich gar nicht mehr so dramatisch vor. Es war einfach ein Fakt – eine oberflächliche Fußnote –, kein entscheidender Teil meiner Persönlichkeit, der die Meinung meines Umfelds von meiner Persönlichkeit von Grund auf verändern könnte.
WerbungWERBUNG
Stattdessen fing ich an, für meine Situation gleichermaßen meine Passivität und schlichten Zufall verantwortlich zu machen. Zukünftige Partner werden außerdem vermutlich viel mehr Verständnis für meine Lage haben, nachdem sie selbst durch Lockdown und Coronaregeln ordentlich sexuell ausgebremst worden sein dürften.
Ich kann jetzt schon kaum glauben, wie sehr sich meine Unsicherheit durch das Wissen gelegt hat, dass unter den Kandidaten für mein erstes Mal sicher auch einige seit gut anderthalb Jahren keine weiteren Erfahrungen sammeln konnten. Aber ob sie während dieser Zeit nun Meister im Masturbieren oder im sozial distanzierten Dating geworden sind oder sich vielleicht im Lockdown getrennt haben – die genauen Details sind mir da eigentlich egal. Ich habe viel Selbstbewusstsein daraus gewonnen, dass für uns alle durch Corona etwas ähnlichere Bedingungen geschaffen wurden; daraus, dass nach der Pandemie vermutlich beide Parteien emotionale Geschichten zu erzählen haben. Ich werde mit meinem „Geständnis“ nicht allein sein. Dazu kommt, dass in der Single-Welt gerade ohnehin Chaos herrscht, weil offenbar alle das Gefühl haben, während Corona „falsch“ gedatet zu haben – mit zu viel oder zu wenig Sex, mit zu vielen oder zu wenigen Dates.
Während ich das hier also schreibe, bin ich 27 Jahre alt und… richtig, immer noch Jungfrau. Inzwischen weigere ich mich aber, mich von dieser Tatsache davon abhalten zu lassen, ganz entspannt und ehrlich neue Beziehungen zu knüpfen. Die Pandemie hat mir eine Pause geschenkt, die es so bisher nie gab und sich wohl auch (hoffentlich) nicht wiederholen wird, und während der ich mich wieder auf meine Rationalität besinnen konnte, die meine Unsicherheiten vor langer Zeit zerstört hatten. Und ich weiß inzwischen: Meine Jungfräulichkeit ist sicher nicht das Wichtigste, was ein Partner von mir erfahren sollte.