Letzten September zog meine Partnerin Renee von Singapur zu mir nach Los Angeles, damit wir dort unser gemeinsames Leben beginnen konnten – eine große, romantisch wirkende Geste, die man so (wenn überhaupt) meistens von Liebespaaren zu hören bekommt. Renee und ich sind aber keins.
Renee und ich sind platonische Lebenspartnerinnen – eine Beziehung, die Eigenschaften von Freundschaft, Ehe und Polyamorie vereint. Wir sind Partnerinnen, haben aber keinen Sex miteinander (selbst Umarmungen gibt es bei uns nur selten) und daten andere Leute. Wir teilen uns Geld und eine Einzimmerwohnung in Los Angeles. Außerdem schauen wir gerade, wie wir auch gesetzlich als nächste Angehörige der jeweils anderen anerkannt werden können.
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Renee und ich lernten uns in der Mittelstufe in Singapur kennen. Direkt von Anfang an verband uns eine besondere Beziehung. Wir hatten viele gemeinsame Interessen und Freund:innen, aber unsere Verbindung ging tiefer – wir nannten uns „Seelenverwandte“. Unsere Familien verbrachten Feiertage und Urlaube zusammen. Wir erlebten die wichtigsten Momente im Leben der jeweils anderen quasi aus erster Reihe mit: die ersten Beziehungen, die ersten Karriereschritte, die größten Herausforderungen des jungen Erwachsenenlebens eben.
Nachdem wir schon seit sieben Jahren beste Freundinnen waren, zog ich nach Los Angeles. Wir führten getrennte Leben in verschiedenen Ländern, blieben aber immer noch eng befreundet. Die Entfernung störte uns nicht mal großartig – bis zum Frühling 2020, als die Distanz plötzlich zu einer gigantischen Hürde wurde, die wir einfach überkommen mussten.
Die Pandemie ließ unser beider Leben schrumpfen. Freundschaften, die aus Bequemlichkeit entstanden waren, fühlten sich plötzlich unbequem an. Leute, die wir zuvor hatten tolerieren müssen, wurden bloß zu einem kleinen Kasten im Zoom-Call. Wir hatten mit einem Mal die Möglichkeit, uns ganz genau auszusuchen, mit wem wir unsere Zeit verbrachten – und stellten fest, dass wir uns dabei immer wieder füreinander entschieden. Die 16-Stunden-Zeitverschiebung und unsere wackelige Internetverbindung hielten uns kaum davon ab, jeden einzelnen Tag miteinander zu verbringen.
Eine der häufigsten Fragen, die uns gestellt werden, ist: „Wie habt ihr euch dazu entschieden, platonische Lebenspartnerinnen zu werden?“ Sprich: Wieso wollten wir unserer ohnehin schon festen, erfüllenden Freundschaft zusätzlich diese verpflichtende Ebene verpassen? Die Antwort ist relativ simpel: Wir hatten uns sehr auf uns selbst konzentriert – und uns dadurch einander zugewandt.
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Renee hatte gerade in Singapur ihr Studium in Lebenswissenschaften abgeschlossen, das sie aber nicht nutzen wollte. Sie wünschte sich eine kreativere Karriere und wollte sich mit offenen Menschen umgeben, die ebenfalls immer weiterlernen wollten.
Gleichzeitig fiel es ihr immer schwerer, ihre Bisexualität zu ignorieren – eine Facette ihrer Persönlichkeit, die sie in einer Gesellschaft immer hatte unterdrücken müssen, in der gleichgeschlechtliche Beziehungen bis heute tabu sind. Sie hatte sich ihre hypothetische Zukunft in Singapur ausgemalt, und obwohl sie zwar glaubte, sich dort wohlfühlen zu können, wusste sie, dass sie ihr Leben nicht dem Autopiloten überlassen wollte.
Am anderen Ende der Welt, in L.A., war ich genau dort, wo ich hingehörte. Ich studierte an der Filmschule, hatte schon ein paar Preise gewonnen und einflussreiche Kontakte in meinem Handy abgespeichert. Ich hatte schon mehrere Jahre lang die Freiheit genossen, herauszufinden, wer ich war – als Frau, als Liebhaberin, als Künstlerin. Ich hatte große Träume, und L.A. war die perfekte Bühne dafür, sie in die Tat umzusetzen.
Weil auf meinem Visum aber ein Ablaufdatum stand und ich keine Verwandten in den USA hatte, sehnte ich mich nach einem Gefühl von Zuhause. Ich stopfte meinen Kalender voller kreativer Projekte und sozialer Verpflichtungen, um mich von der Einsicht abzulenken, dass ich mich sehr einsam fühlte. Eine Weile lang versuchte ich, diese Leere mit romantischen Beziehungen zu füllen, konnte mir aber mit keinem dieser Menschen eine Zukunft vorstellen. Ich war irgendwann so genervt vom Dating, dass ich mich während der Pandemie auf mich selbst konzentrierte.
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Während Renee und ich via FaceTime unsere Lockdown-Tage miteinander verbrachten, wurde uns bewusst, wie sehr wir es liebten, die alltäglichen Momente zusammen zu erleben. Während unserer Calls ging es uns nie darum, „einfach mal zu quatschen“. Stattdessen halfen wir einander aktiv dabei, zu lernen, zu wachsen und vieles zu verarbeiten. Wir erkannten, dass wir uns gemeinsam weiterentwickelten, obwohl wir so extrem unterschiedliche Wege eingeschlagen hatten. Und wir sahen, dass sich diese verschiedenen Wege jetzt kreuzen konnten. Wir konnten uns plötzlich eine gemeinsame Zukunft ausmalen. Mehr als das: Wir wünschten sie uns – jetzt.
Also suchte sich Renee einen Job in einer digitalen Marketing-Agentur mit einem Standort in Los Angeles. Für die arbeitete sie ein Jahr lang aus Singapur, bevor sie den großen Umzug wagte. Dieses Jahr nutzten wir, um pragmatische Diskussionen über Finanzen, Grenzen und eventuelle Streitpunkte zu führen – schließlich kannten wir einander zwar durch und durch, hatten aber eben noch nie zusammengewohnt. Ich nenne das unsere „Verhandlungsphase“.
Unsere emotionale Verbindung hatte bisher den Großteil unserer Beziehung bestimmt. Wir wussten zwar, dass unsere Partnerschaft theoretisch funktionierte – aber erst, als Renee im September 2021 nach Los Angeles zog, bekamen wir auch die logistischeren Aspekte unserer Beziehung zu sehen. Wir waren rücksichtsvolle, entgegenkommende Mitbewohnerinnen, unterstützten uns finanziell und verliehen einander den Antrieb, unsere jeweiligen Ziele schneller zu erreichen.
Aber wie sollten wir das Ganze nennen? Obwohl Renee und ich uns sicher waren, sowohl die unmittelbare als auch die entfernte Zukunft gemeinsam verbringen zu wollen, hatten wir noch keinen Begriff für unsere Partnerschaft. Schließlich verband uns eine bewusstere, formellere Beziehung als bloß „beste Freundschaft“.
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Dann stieß ich über einen Artikel zu „Boston Marriages“ (z. Dt.: „Bostoner Ehen“). Das waren Lebenspartnerschaften im späten 19. Jahrhundert, in denen Frauen andere Frauen „heirateten“. Einige dieser Beziehungen waren sicherlich insgeheim sexueller Natur – aber sie hatten auch einen anderen Vorteil: Zu dieser Zeit hätte eine Frau durch die Heirat mit einem Mann ihre zukünftige Karriere gegen das Dasein als Hausfrau und Mutter eintauschen müssen. Bostoner Ehen erlaubten es den Frauen, die es sich wünschten, ihre individuellen akademischen oder beruflichen Ziele weiter zu verfolgen, ohne dadurch auf eine Partnerschaft verzichten zu müssen. Als ich das las, bewunderte ich diese Frauen.
Dieses Konzept gefiel Renee und mir sofort. Wir hatten beide Wünsche und Träume, die wir bisher nicht erfüllt hatten und von denen wir glaubten, dabei in romantischen Beziehungen Kompromisse eingehen zu müssen. Diese alternative Version einer Partnerschaft zeigte uns aber, dass wir a) nicht den Rest unseres Lebens mit einem:einer Ehepartner:in verbringen oder b) stattdessen allein bleiben müssten. Unsere gemeinsame Zukunft kam uns plötzlich so viel freier vor, weil uns klar wurde, dass es eine dritte Option gab: ein gemeinsames Leben mit der besten Freundin.
Wir empfanden tiefe platonische Liebe und Hingabe füreinander und konnten auf Augenhöhe über unsere jeweiligen Lebensziele sprechen, um sicherzugehen, dass die harmonierten. Obwohl ich nicht weiß, wie sich Liebespaare für eine Hochzeit entscheiden, denke ich, dass es wohl ähnlich abläuft wie unser Beschluss, eine platonische Lebenspartnerschaft zu führen. Wenn dir jemand durchgehend dabei hilft, die beste Version deiner selbst zu sein, und du dich mit dieser Person in deinem Leben umso mehr auf deine Zukunft freust – warum solltest du diesen Menschen dann nicht für immer an deiner Seite haben wollen?
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Als wir darüber redeten, uns einander derart zu verpflichten, kamen wir immer wieder auf das Thema „bedingte vs. bedingungslose Liebe“ zu sprechen. Weil unsere Partnerschaft auf unserer Fähigkeit aufbaut, einander dabei zu helfen, uns weiterzuentwickeln, betrachten wir unsere Liebe als bedingt. Unsere Regel lautet: „Ich werde dich lieben, solange du dich selbst liebst.“ Und wir haben es einander freigestellt, diese Beziehung zu beenden, wenn sich eine von uns selbst aufgegeben hat oder keinen Zweck mehr im Leben der anderen erfüllt – von angenehmer Gesellschaft mal ganz abgesehen.
Renee ist erst vor ein paar Monaten hier eingezogen; wir haben also noch unsere rosaroten Brillen auf. Genau genommen warte ich aber seit zwölf Jahren darauf, die zu verlieren. Bisher bemerke ich stattdessen immer mehr Dinge, die ich an ihr liebe – und an mir, wenn ich mit ihr zusammen bin.
Diese Erfahrung hat mich davon überzeugt, dass die meisten Menschen – inklusive mir selbst – in persönlichen Beziehungen bisher immer nur einer veralteten Landkarte gefolgt sind. Wir romantisieren die Vorstellung, dass ein Mensch alles für dich sein könnte: dein:e Mitbewohner:in, deine finanzielle und emotionale Stütze, dein Co-Elternteil, dein:e beste:r Freund:in – und dann auch noch ein:e Liebhaber:in auf Lebenszeit. Das kommt mir einfach nicht realistisch vor.
Versteh mich nicht falsch: Ich halte eine platonische Lebenspartnerschaft nicht unbedingt für leichter. Sie erfordert genauso viel Kommunikation und Hingabe wie jede andere Beziehung. Wir geben uns viel Mühe, einander zur Verantwortung zu ziehen, und finden beide, dass zu jeder gesunden Beziehung auch gewisse Grenzen gehören. Wir sprechen ehrlich miteinander, verhandeln, gehen Kompromisse ein. Wir erkennen an, was das Beste für die jeweils andere ist – selbst, wenn das nicht unsere Beziehung ist.
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Es ist aber eine Erleichterung, sich nicht darüber den Kopf zerbrechen zu müssen, eine romantische Bindung aufrechtzuerhalten, wenn wir die Logistik unseres geteilten Lebens besprechen. Tatsächlich glaube ich, dass einer der größten Gründe dafür, dass Renee und ich schon so lange zusammen sind, der ist, dass wir einander nicht auch noch zum Orgasmus bringen müssen.
Ich werde mich für immer darüber wundern, dass die Gesellschaft junge Leute so unter Druck setzt, zu heiraten – sich aber nicht vorstellen kann, dass sich zwei beste Freund:innen einander genauso verpflichten könnten. Das haben wir der weit verbreiteten, aber problematischen Annahme zu verdanken, romantische Liebe sei die beste Art von Liebe. Und obwohl ich selbst Romantikerin bin, kann ich nicht behaupten, dass ich das bisher so empfunden habe.
Dabei habe ich tatsächlich gerade einen romantischen Partner. Er lebt in New York, und laut Renee sind wir fast schon abartig süß zusammen. Er versteht sich gut mit Renee und akzeptiert, dass sie immer die erste Geige spielen wird. Er hat verstanden, dass es mir meine Partnerschaft mit ihr ermöglicht, ihn besser zu lieben. Er muss nicht mein Ein und Alles sein, sondern einfach nur da. Und wegen meiner platonischen Lebenspartnerschaft mit Renee kann ich ihn als den Menschen genießen, der er jetzt ist – nicht als der, der er in Zukunft für mich sein könnte.
Renee und ich haben angefangen, auf TikTok von unserer Beziehung zu erzählen, weil wir für andere das sein wollten, was wir selbst niemals hatten – ein Vorbild für alternative Beziehungsmodelle. Und obwohl wir nicht damit gerechnet hatten, wie viele Klicks unsere Videos bekommen würden, ist es gleichzeitig aufregend und beruhigend zu wissen, dass es da draußen eine ganze Community gibt, die ähnlich denkt und fühlt wie wir.
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Natürlich bekommen wir nicht nur positive Reaktionen. Wir lesen oft, wir seien zu jung oder hätten nicht bedacht, was passiert, wenn wir mal unterschiedliche Wünsche haben. Aber die Frage, die wir am liebsten beantworten wollen, ist die: „Wie finde ich eine platonische Lebenspartnerschaft?“
Die Wahrheit ist: Das tust du nicht – sie findet dich. Oder vielleicht hat sie dich schon gefunden, ohne dass du es bemerkt hast, weil du dich bisher nur auf romantische Partner:innen konzentriert hast.
Wir wollen unsere Geschichte nicht mit anderen teilen, um ihnen eine weitere Version der „wahren Liebe“ vorzusetzen, die für viele leider unerreichbar bleiben wird – sondern um sie dazu zu ermuntern, unabhängig von gesellschaftlichen Normen offen für Neues zu bleiben. Hör auf dich selbst und widme dich den Beziehungen, die dich am glücklichsten machen. Die Liebe deines Lebens kann ganz viele verschiedene Formen annehmen – ja, auch die einer Freundin oder eines Freundes.