In meinen späten Zwanzigern stellte mich ein gemeinsamer Freund der Frau vor, bei der sich mein bis dahin erfahrenes Herz absolut sicher war: Sie war die Eine.
E. war der erste Mensch, den ich kennenlernte – von „datete“ mal ganz abgesehen –, der meine Leidenschaft dafür teilte, in New York überall mit dem Rad hinzufahren. Sie war außerdem eine noch begeistertere Feinschmeckerin als ich. Allein diese zwei Eigenschaften hätten mir schon gereicht, um mich komplett von ihr zu überzeugen – aber da war noch so viel mehr. Wir waren beide in Singapur aufgewachsen und fürs Studium ins Ausland gezogen; wir wussten daher beide, wie es sich anfühlte, Kindheit und Erwachsenenleben in unterschiedlichen Ländern zu verbringen. Noch dazu waren wir beide Anwältinnen und verstanden daher, wie viel Zeit und Mühe dieser Job erforderte. Und natürlich hatten wir auch beide dieselbe Lieblingsband.
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Als wir uns zwei Jahre darauf trennten, nachdem sie nach Singapur zurückgezogen war und mir gesagt hatte, die Entfernung sei ihr zu viel, war ich am Boden zerstört. Ich hatte nicht nur sie, sondern auch die Vorstellung von ihr verloren. Das war’s: Ich würde nie wieder jemanden finden, die so gut zu mir passte.
Bis zu diesem Punkt war es mir immer ultrawichtig vorgekommen, jemanden zu finden, der:die meinen Geschmack, meine Interessen und meine Werte teilte. Auf pragmatischer Ebene ist es außerdem cool, an denselben Aktivitäten Spaß zu haben – je mehr Überschneidungen es gibt, desto mehr Spaß habt ihr zusammen. Noch dazu verleihen ein ähnlicher Hintergrund oder ähnliche Erfahrungen euch beiden ein gemeinsames Vokabular und ein tieferes Verständnis für diese Aspekte des Lebens. Und wenn du noch dazu so hoffnungslos romantisch veranlagt bist wie ich, kommt es dir dann vielleicht auch so vor, als sei es Schicksal, jemanden zu finden, der:die deine Leidenschaften teilt – ob nun für Krimiromane oder Indie-Musik. Wir definieren uns in gewisser Hinsicht über unsere Geschmäcker, Vorlieben und Interessen. Wenn jemand die nachvollziehen kann, haben wir das Gefühl, dass diese Person auch uns komplett versteht.
Als es irgendwann an der Zeit war, wieder mit dem Dating anzufangen – weil die Alternative lebenslange Solo-Radtouren und das Verschicken von kulinarischen Artikeln an Freund:innen waren, die sie sich vermutlich niemals durchlesen würden –, stürzte ich mich dazu ins Internet.
Das war zu Hochzeiten der Dating-Websites (nicht Apps!), als du noch Fragebögen ausfüllen und in deinem Profil sorgfältig auflisten musstest, wer du bist, wofür du dich interessierst und was du so machst, welche Bücher du liest, welche Musik du hörst, wie dein ideales erstes Date aussehen sollte, und, und, und. Ich hatte schon vorher Erfahrungen mit Online-Dating gemacht – ein paar Jahre, bevor ich E. kennengelernt hatte –, doch als ich jetzt dahin zurückkehrte, war ich positiv davon überrascht, wie viele Leute das Online-Dating inzwischen für sich entdeckt zu haben schienen. Eine Website verlangte ein kostenpflichtiges Abo, und eine andere hatte den LGBTQ-Markt noch nicht für sich entdeckt – also entschied ich mich für OkCupid.
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Auf meiner Suche durchforstete ich die Profile anderer Frauen nach Indizien der Kompatibilität und versteckte zahlreiche Hinweise in meinem Profil, die nur eine potenzielle Seelenverwandte wirklich verstehen würde. Als mich einmal jemand fragte, ob mein Profilname eine Anspielung auf Salman Rushdies Mitternachtskinder sei (war es!), war ich quasi sofort verliebt.
Meine nächste Partnerin fand ich dann auch tatsächlich auf OkCupid, sechs Monate nach meiner Trennung von E., und von Anfang an zerbrach ich mir den Kopf darüber, ob meine neue Freundin W. und ich auch wirklich kompatibel genug seien. Schließlich hatte auch OkCupid uns nur als 70-prozentiges Match erklärt, und wir hatten eindeutig nicht so viele Überschneidungen wie E. und ich.
W. war Maschinenbauerin. Ich hatte noch nie eine:n Maschinenbauer:in getroffen und vermutete, das könnten langweilige Leute sein. (Im Nachhinein erfuhr ich, dass W. bei mir dieselben Sorgen gehabt hatte – als Anwältin, die gerne Romane schreiben wollte.) Keine unserer auf der Website angegebenen Interessen überschnitten sich. Auf ihren Fotos sah sie süß aus; auf einem war sie aus irgendwelchen Gründen in Packpapier eingewickelt. Aber hatten wir auch irgendwas gemeinsam? Würden wir irgendwelche Gesprächsthemen haben? Ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass ich sie ja notfalls einfach nach dem Packpapier fragen konnte. Ich war so kurz davor, ihr gar nicht erst zu schreiben – aber damals hatte ich mir gerade vorgenommen, mein Netz so weit wie möglich auszuwerfen. Ich wollte ja gar nicht die nächste Liebe meines Lebens finden, sondern einfach neue, hoffentlich interessante Leute kennenlernen.
Ich erinnere mich immer noch an diesen Moment bei unserem ersten Date, als ich dachte: Das ist so ein cooler Mensch. Wir unterhielten uns gerade beim Abendessen, als W. sagte: „… als ich in der Antarktis war.“ Als sie mir bestätigte, dass sie damit tatsächlich den Südpol meinte und nicht zum Beispiel irgendeine Cocktailbar, fragte ich sie, was sie da gemacht habe. Es stellte sich heraus, dass sie drei Monate an der McMurdo-Station für ein Projekt des Ingenieurkorps der Armee gearbeitet hatte.
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Im Laufe der nächsten Monate – und dann Jahre – bemerkten W. und ich immer deutlicher, in welchen Bereichen wir nicht unbedingt kompatibel waren. Sie weigert sich beispielsweise, in New York Fahrrad zu fahren, hält das Theater für langweilig (was sie mir schließlich beichtete, nachdem sie erkannte, dass ihr ansonsten regelmäßige Theaterbesuche bevorstehen würden), liest keine Romane und hält meinen Musikgeschmack für ziemlich öde. Ich hingegen interessiere mich überhaupt nicht für Programmierung, Holzarbeiten oder Mechatronik und habe keine Ahnung, was sie am Wochenende in ihrer Werkstatt macht. Es hat irgendwas mit Motoren und einer „CNC-Fräse“ zu tun.
Und dennoch sind wir trotz unserer Unterschiede immer noch zusammen. Sie sagt und tut bis heute Sachen, die mich denken lassen: Das ist so ein cooler Mensch. Wir bringen einander zum Lachen (und zur Weißglut), und ich habe keine Angst mehr davor, uns könnten die Gesprächsthemen ausgehen. Sie hat mich für Kreuzworträtsel begeistern können, und ich – unterstützt durch die pandemiebedingte Schließung von Fitnessstudios – habe sie zum Joggen überredet bekommen. Und was noch viel wichtiger ist: Wir sind unserem gemeinsamen Leben komplett verpflichtet – inklusive aller Herausforderungen. Wir wissen, dass wir auf alles eine Lösung finden. Zusammen.
Gar nicht schlecht für ein 70-prozentiges Match!
Online-Dating-Plattformen ermutigen uns dazu, Kompatibilität als messbares Ziel zu betrachten, in Form von Prozentangaben, die dir einreden wollen, wie gut du zu jemand anderem passt, und mit ihrem Fokus auf gewisse Dating-Aspekte wie Interessen, Aktivitäten und Geschmäcker. Heutige Dating-Apps sind deutlich ausgeklügelter als die Websites, auf denen ich mich vor Jahren rumtrieb, und ermöglichen es ihren Nutzer:innen zum Beispiel, ihre Social-Media-Accounts ins Dating-Profil zu integrieren. So können sie noch dazu all die Informationen beziehen, die wir ohnehin schon ins Internet gestellt haben. Tinder zum Beispiel nutzt Spotify, um User basierend auf dem Musikgeschmack miteinander zu verkuppeln. Und inzwischen gibt es auch zahlreiche Apps, die dich mit der Person zusammenbringen, die deine ganz spezifischen Interessen teilt.
Ich bin mittlerweile der Meinung, dass die Vorstellung von Kompatibilität, die uns so instinktiv vorkommt und die von diesen Dating-Plattformen aufrechterhalten wird, total irreführend ist. Es gibt nicht die eine Möglichkeit, herauszufinden, mit wem wir besonders „harmonieren“ könnten. Jede:r von uns kennt Pärchen, die das „Gegensätze ziehen sich an“-Klischee bestätigen – aber auch welche, von denen wir behaupten, sie hätten „so viel gemeinsam“. Dich zu stark darauf zu konzentrieren, ob ein potenzielles Date so-und-so-viele Punkte auf deiner Wunschliste abhakt, kann dich davon abhalten, dir mit einem „Klar, warum nicht?“ einen Menschen in dein Leben zu holen, der es wahnsinnig bereichern könnte.
Damit will ich nicht behaupten, es könne niemals eine Zukunft geben, in der Dating-App-Kompatibilitäts-Voraussagen nicht einen 100-prozentigen Beziehungserfolg garantieren könnten. So absurd ist diese Vorstellung vielleicht gar nicht. Bis dahin solltest du dir aber bewusst sein, dass die gegenwärtige Dating-Technologie eine Chance ist, mit jemandem zusammenzukommen, von dem:der du das nie für möglich gehalten hättest.
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