An einem Samstag vor ein paar Wochen döste ich noch im Bett, als mein Mann frühmorgens mit unserem Hund Gassi ging. Als ich da so allein rumlag, kam mir die spontane Idee, mich ein bisschen selbst zu befriedigen. Ich hatte einen schnellen, schönen Orgasmus – gefolgt von einer Welle an Schuldgefühlen. Die hatte nichts mit dem Akt selbst zu tun (mir ist durchaus bewusst, dass wir alle masturbieren!), sondern damit, dass ich in einer Beziehung bin, sogar verheiratet. Deswegen fühlt sich die Masturbation für mich manchmal so an wie zu Schulzeiten – wie etwas Heimliches, Schambelastetes, wie etwas, das ich nicht tun sollte. Zumindest nicht, wenn ich ja leichten Zugang zu einem willigen Ehemann habe.
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Bevor du mich jetzt kritisierst, ich sei eine sexuell unterdrückte Antifeministin, lass mich das bitte erstmal erklären. Ich bin Mitte 30 und versuche immer noch, wie viele Millennials auch, mich von den Fesseln einer halbgaren Sexualkunde zu befreien. Mein Sex-Wissen musste ich mir größtenteils aus Schnulzenromanen, die ich meiner Mutter geklaut hatte, selbst zusammenbasteln – sowie aus der alten Weisheit, „gute Mädchen“ würden mit dem Sex bis zur Ehe warten. Und genau deswegen rede ich bis heute kaum mit meinem Partner über Selbstbefriedigung. Das ist eher so: „Ich weiß, dass du masturbierst; du weißt, dass ich masturbiere. Lass uns aber einfach nie drüber reden, und bitte vor allem nicht darüber, als ich einmal versehentlich einen Porno auf dem Laptop offen hatte.“ (Upsi.) „In vielen Partnerschaften wird daraus ein großes Geheimnis gemacht“, bestätigt mir auch Robin Milhausen, Professorin für Sexualität an der University of Guelph. „Die meisten Menschen haben keine Ahnung, wie oft ihr:e Partner:in, unabhängig vom Gender, masturbiert.“
Dabei tun wir es ja alle definitiv! Insbesondere während der Pandemie. Wenn wir uns die Verkaufszahlen von Sextoys mal anschauen, könnte man sogar meinen, dass manche von uns quasi nichts anderes mit sich anzufangen wussten, als sich selbst zu befriedigen. Eine Studie vom Kinsey Institute der Indiana University ergab, dass 33 Prozent der Männer und 20 Prozent der Frauen mit Beginn des Lockdowns häufiger masturbierten als vorher. Weitere 24 Prozent der Frauen masturbierten hingegen weniger – was nicht so überraschend ist, da viele Frauen aufgrund der verstärkten emotionalen Arbeit oder Haushaltslast weniger Zeit für sich hatten.
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Aber es gab ja schon immer unterschiedliche sexuelle Regeln für Männer und Frauen. Während meiner Jugend sah ich in Filmen und Serien, dass Männer quasi alles poppten, was nicht bei 3 auf dem Baum war (inklusive Apfelkuchen), wohingegen Frauen dafür verurteilt wurden, mit heißen, sensiblen Tanzlehrern zu schlafen. Also lernte ich, meine Libido zu unterdrücken – zumindest nach außen hin. Erst seit Kurzem werden wir Frauen dazu ermutigt, unsere Sexualität so richtig auszuleben, inklusive Solo-Spaß unter der Bettdecke. (Obwohl uns immer noch kaum jemand offen erklärt oder zeigt, wie das eigentlich läuft – geschweige denn auf nicht-heteronormative Art.)
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Frauen betrachten Sex viel häufiger im Kontext der Lust einer anderen Person.
alexandra fine, sexologin
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„Der pleasure gap [z. Dt.: ‚Lust-Lücke‘] ist einer der größten Gender-Gaps“, meint Alexandra Fine, Sexologin und Mitbegründerin der Sextoy-Marke Dame Products. Diese Lücke gilt für die Masturbation, aber auch für den Sex. Studien haben ergeben, dass Frauen in heterosexuellen Beziehungen viel seltener beim Sex zum Orgasmus kommen als Männer. (Plus: Lesbische Frauen erleben mehr Orgasmen als hetero- oder bisexuelle Frauen.) Diese Diskrepanz haben wir diversen Faktoren zu verdanken – vom fehlenden Wissen unserer Partner:innen rund um unsere Anatomie bis hin zu unserer eigenen Unsicherheit –, deutet aber auch darauf hin, „wer einen Anspruch auf Lust empfindet und wieso“, meint Fine. „Frauen betrachten Sex viel häufiger im Kontext der Lust einer anderen Person. Das ist ein so großer Bestandteil des weiblichen Sexualnarrativs.“
Milhausen glaubt zwar, dass wir in der Hinsicht schon große Fortschritte gemacht haben, ist aber ebenfalls der Meinung, dass die Selbstbefriedigung bisher noch nicht Teil unserer sexuellen Revolution ist. „Masturbation ist das letzte Bollwerk des [sexuellen] Gender-Unterschieds, weil Männer es viel häufiger tun als Frauen.“ (Interessanterweise haben ihre Forschungen ergeben, dass Frauen an der Selbstbefriedigung tatsächlich mehr Spaß haben als Männer – aber das ist eine andere Geschichte.)
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Dabei hilft leider auch nicht, dass sich die Selbstbefriedigungs-Industrie in ihrem Marketing größtenteils an Männer richtet – obwohl feministische Porno-Seiten und Firmen wie Dame auch da den Fortschritt vorantreiben. Was hier wirklich helfen würde, wäre, das sexuelle Drehbuch umzuschreiben, das wir schon in jungen Jahren eingetrichtert bekommen; das verlangt aber eben auch eine mentale Neuverkabelung in unseren Köpfen. Es macht dich nicht zu einem schlechten Partner oder einer schlechten Partnerin, wenn du an einem Tag Lust auf Masturbation, nicht aber auf Sex hast. Und wenn du nach einem heißen Kapitel in einem Buch Lust auf deinen Vibrator hast, während dein:e Partner:in gerade joggen ist, ist das kein Grund, dich schuldig zu fühlen.
Außerdem ertränken wir uns selbst ja ohnehin schon in genug Schuldgefühlen – vor allem, wenn es darum geht, uns Zeit für uns selbst zu nehmen (ob nun für Sexuelles oder nicht). „Wir müssen Frauen unbedingt dazu ermutigen, sich mehr Freizeit einzuräumen und mehr Zeit für sich selbst zu nehmen. Dann ergibt sich das mit dem Sex-Ding schon von allein“, sagt Milhausen. „Bis Frauen die fünf Minuten haben, um zu duschen, spazieren zu gehen, ein Buch zu lesen oder mit Freund:innen zu quatschen, werde ich sie sicher nicht dazu auffordern, eine Zeit zum Masturbieren festzulegen.“
Fine jedenfalls hat kein Problem damit, es sich selbst zu machen, sogar wenn ihr Mann neben ihr liegt. „Ich masturbiere regelmäßig neben ihm“, sagt sie. „Manchmal ergibt sich daraus dann auch etwas anderes, manchmal nicht, und manchmal will ich das auch gar nicht. Wir machen das jetzt schon seit zehn Jahren so, und ich habe nie groß drüber nachgedacht. Das ist so, wie wenn ihr anfangt, voreinander zu pinkeln. Das erste Mal ist irgendwie komisch, und danach ist es einfach ganz normal.“
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Ich bin mir nicht sicher, ob ich wirklich kommen könnte, während sich mein Mann neben mir auf seinem iPad Bundesliga-Zusammenfassungen anguckt. Ich kann aber sagen, dass ich mich letztens für ein bisschen „Me-Time“ ins Schlafzimmer zurückgezogen habe – und es ihn überhaupt nicht störte. Stellt sich raus, dass unser „Lass uns nicht über Selbstbefriedigung reden“-Deal vielleicht doch immer nur mein ganz persönliches Problem war.
Und ich weiß jetzt genau, was ich das nächste Mal mache, wenn er mit dem Hund im Park unterwegs ist.
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