Als ich damit anfing, an meiner Heterosexualität zu zweifeln, fühlte sich das an, als hätte ein Antikörper mein Hirn infiltriert. Nach 21 Jahren, in denen ich mich in meiner Identität pudelwohl gefühlt hatte, tauchte hier jetzt plötzlich eine Bedrohung für diese friedliche Ordnung auf. Wann immer mir diese Gedanken durch den Kopf spukten, stieß mein Gehirn sie ganz automatisch von sich.
Die Monate vergingen, und mit der Zeit wurde mir immer klarer, dass mein Filter für diese Gedanken nach und nach versagte. Sie waren immer noch da – und vermehrten sich. Wann immer es in Gesprächen um Sexualität ging, platzte mir fast schon aggressiv das Geständnis raus, ich sei queer. Dabei fühlte ich mich verlegen und ertappt, wie ein Kind, das beim Klauen erwischt wird.
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Ich kann an einer Hand abzählen, wie oft ich dabei schlicht und ergreifend gesagt habe: „Ich bin bisexuell.“ Das liegt daran, dass sich die Worte in meinem Mund wie eine Entschuldigung anfühlen. Ich gehe mit meiner Sexualität um, als sei sie eine Enttäuschung, die ich mit Worten abschwächen muss – à la: „Ich glaube, ich bin nicht hetero. Ich weiß nicht genau, aber ich glaube, ich bin vielleicht bi?“ Wenn ich „bi“ laut ausspreche, ergänze ich das immer mit Finger-Anführungszeichen und einer Grimasse.
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Ich war verwirrter denn je, und meine sexuelle Eingebung warf mehr Fragen auf, als sie beantwortete.
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Ich erinnere mich noch gut an die Nacht, als ich alleine in meinem Zimmer saß und urplötzlich kapierte: Ich bin queer – beziehungsweise „nicht hetero“. Zu einer genaueren Bezeichnung traute ich mich damals nicht. Und prompt war da diese Wut auf mich selbst: Wie hatte ich sowas vor mir selbst verheimlichen können? Wie hatte ich es wagen können, sowas nicht über mich selbst zu wissen? Wie die nervige Gen-Z-erin, die ich bin, habe ich ein vermeintlich selbstbewusstes Verständnis von mir und meiner eigenen Identität. Dieser Plottwist brachte mich jetzt aber zum Zweifeln: Wusste ich eigentlich überhaupt irgendwas über mich wirklich?
Dieses Coming-out wurde für mich nicht von denselben Aha-Momenten begleitet, von denen so viele andere queere Menschen erzählen. Von denen hört man immer wieder: „Oh, ich war total in meine beste Freundin verliebt!“, oder: „Oh, ich stand damals auf den Jungen von nebenan!“ Für viele queere Leute macht es irgendwann „Klick“ und alles ergibt auf einmal Sinn. Ich war stattdessen aber verwirrter denn je, und meine sexuelle Eingebung warf mehr Fragen auf, als sie beantwortete.
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Weil das Präfix „bi“ für zwei steht, dachte ich immer, Bisexualität bedeute, man stünde auf Männer und Frauen – eine binäre Definition, die auf mich und meine Vorlieben aber nicht ganz zuzutreffen schien. Die Definition der Bisexualität hat sich aber inzwischen stark weiterentwickelt; Minus18 definiert sie zum Beispiel als die Anziehung zu deinem eigenen und anderen Genders – und das müssen dann eben nicht nur zwei sein.
Bisexuell zu sein bedeutet demnach nicht automatisch, sich 50/50 zu zwei Genders hingezogen zu fühlen. Tatsächlich ist es sogar normal, dabei ein bestimmtes Gender zu bevorzugen. Wie die Aktivistin Robyn Ochs sagt: „Ich nenne mich bisexuell, weil ich damit anerkenne, dass ich das Potenzial habe, mich – romantisch und/oder sexuell – zu mehr als nur einem Gender hingezogen zu fühlen, und das nicht unbedingt zur gleichen Zeit, auf dieselbe Art oder mit derselben Intensität.“
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Ich habe nie die typischen „Bi-Initiationsriten“ durchlebt, und fühlte mich deswegen oft nicht „bi genug“.
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Das verstehe ich gut: Ich selbst bin seit fast sechs Jahren mit einem Mann zusammen und war zu Schulzeiten total in Jungs verknallt. Ich habe demnach nie die typischen „Bi-Initiationsriten“ durchlebt, und weil ich mich nie in eine Frau verliebt habe und demnach auch in der Hinsicht Erfahrungen gesammelt habe, fühlte ich mich oft nicht „bi genug“.
Obwohl ich diese Unsicherheiten zwar logisch und akademisch angehen und abarbeiten kann, scheint das nie lange anzuhalten. Die Biphobie – also die Stigmata, Vorurteile und Diskriminierung gegenüber bisexuellen Menschen – ist so tief in mir verwurzelt, dass ich sie nicht von meiner Beziehung zu meiner eigenen Sexualität zu lösen scheinen kann.
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Wie kann ich mich selbst als queer bezeichnen, wenn andere so viel „queerer“ sind als ich? Was, wenn das wirklich nur eine Phase ist, wie so viele behaupten? Warum glaube ich, diesen queeren Raum einnehmen zu dürfen? Als sozial unsicherer Mensch fühlte sich das für mich an, als hätte mich jemand dazu aufgefordert, alleine zu einer wilden Homeparty zu gehen, auf der sich alle anderen schon kennen.
Inzwischen sehe ich das aber zum Glück etwas anders. Mir die peinlichen, unsicheren, chaotischen Coming-out-Storys anderer bisexueller Leute anzuhören, hat mir selbst enorm dabei geholfen, meine eigene Geschichte zu akzeptieren. Als „baby queer“, also LGBTQ-Anfängerin quasi, genieße ich es außerdem, ein bisschen mit meiner neuen Identität rumzuexperimentieren – obwohl ich dabei einigen Stereotypen entspreche: Meine Haare sind kürzer! Ich trage Overalls! Ich habe meine Haare blau gefärbt!
Ich lerne nach und nach, diese unbekannte Grauzone für mich zu entdecken. Dabei werde ich sicher einige Fehler machen, aber je länger ich rumprobiere, desto klarer wird mir, dass es hier gar kein wirkliches „Richtig“ oder „Falsch“ gibt. Dieses Unbekannte gehört zur queeren Erfahrung dazu, und das Q in LGBTQIA+ steht nicht bloß für „queer“, sondern auch für „questioning“ – also „hinterfragend“.
Es wird immer normaler, sich selbst keinen konkreten Begriff verpassen oder große Coming-outs zelebrieren zu müssen. Für mich hatte es aber schon fast eine heilende Wirkung, laut auszusprechen: Ja, ich bin bisexuell. Dabei zittert mir vielleicht die Stimme und ich vermeide Augenkontakt – aber es ist endlich kein Geständnis mehr, sondern eine Bestätigung.
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