Menschen sind soziale Wesen. Tiefe Verbindungen zu anderen zu spüren, liegt in unserer Natur. Beziehungen haben, rein evolutionär betrachtet, gleich mehrere Vorteile: Neben dem Spaß, den es macht, Zeit mit anderen zu verbringen, stärken sie auch unsere körperliche und mentale Gesundheit. So ist es erwiesen, dass soziale Kontakte Depressionen, Angstzustände und sogar einige Krankheitsaspekte von Demenz abwenden können. Alles schön und gut, wäre da nicht eine Sache: Je älter wir werden, desto schwerer fällt es uns, neue Freunde oder Freundinnen zu finden.
Und: Freundschaften und Beziehungen sind harte Arbeit. „Je älter man wird, desto schwieriger kann es sein, Bindungen aufzubauen und aufrecht zu erhalten“, sagt die klinische Psychologin Sally Austen. „Die Leute, die wir im Erwachsenenalter kennenlernen, haben meist schon Freundesgruppen etabliert und sind vielleicht gerade nicht auf der Suche nach neuen Bekanntschaften. In dieser Lebensphase haben wir weniger Zeit, neue Leute zu treffen, und wahrscheinlich auch schon eine genauere Vorstellung davon, was eine*n gute*n Freund*in ausmacht. Dementsprechend wählerisch werden wir.“
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Indem Menschen über Social Media kommunizieren, treten sie seltener in persönlichen Kontakt. Das kann das Gefühl von Einsamkeit verstärken.
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Die Dinge ändern sich. Während der Uni kamen die neuen Freund*innen fast automatisch, aber nachdem diese Phase abgeschlossen ist, verschieben sich die Prioritäten. Manche ziehen einem interessanten Job hinterher in eine neue Stadt, während die Freund*innen im alten Umfeld zurückbleiben. Andere möchten mehr Zeit mit der*dem Partner*in oder der Familie verbringen. Austen erklärt: „Diese Zeit birgt viele Umbrüche und Neuanfänge. Wir ziehen um für die Karriere, wir entscheiden uns für eine Hochzeit und Kinder. Dann möchten wir vielleicht noch ein Haus kaufen. Nach solch großen Veränderungen in unserem Leben, oder in dem unserer Freund*innen, wird uns manchmal klar, dass es an der Zeit ist, ganz bewusst nach neuen Menschen in unserem Umfeld zu suchen.“
Nur: Wie stellt man das an?
Die 27 Jahre alte Lucie beispielsweise, die mittlerweile in London lebt, zog 2016 für ein Jahr „Work and Travel“ nach Neuseeland. Dort neue Leute kennenzulernen, war für sie nicht einfach. In der Vergangenheit hatte sie mit Zurückweisungen kämpfen müssen, als sie vom Süden Englands nach London gezogen war. Dementsprechend unsicher war sie, was neue Kontakte anging. Dazu kam, dass manchen Leuten schlichtweg das Interesse fehlt, in einen Kontakt zu investieren, von dem sie wissen, dass er auf ein Jahr begrenzt ist.
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Mit neuen Leuten in Verbindung treten zu wollen, ist absolut nichts, wofür man sich schämen muss.
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„Irgendwann habe ich mir gedacht, dass ich nicht aus Angst vor einer möglichen Ablehnung auf neue Kontakte verzichten sollte“, erzählt sie. Da sie selbst Autorin ist, entschloss sie sich, nach Blogger*innen aus der Gegend zu suchen. Und tatsächlich fand sie eine junge Frau, die von Kanada nach Neuseeland gezogen war. „Ich habe ihr eine E-Mail geschrieben und erzählt, dass ich neu in der Stadt bin und mich genau wie sie für Schreiben und Fotografie interessiere. Dann habe ich sie gefragt, ob sie vielleicht Lust hat, einen Kaffee mit mir trinken zu gehen.“ Aus dem Kaffee wurde eine Verabredung zum Frühstück, die Lucie nicht nur eine neue Freundin einbrachte, sondern auch den Zugang zu einem vollkommen neuen Freundeskreis eröffnete, der ihre kreativen Interessen teilte. „Egal, welches Hobby oder welche Interessen man hat, auf Social Media findet man sehr wahrscheinlich Leute, die diese Interessen teilen. Denen kann man einfach eine Nachricht schicken.“
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Und dafür muss man sich gar nicht schämen. Vielmehr hilft es, einfach ehrlich zu sein. Ob man nun in eine neue Stadt gezogen ist oder aber seit der Kindheit am selben Ort wohnt, es ist absolut nichts schlimm daran, mit neuen Leuten in Verbindung treten zu wollen. Lucie sagt: „Ich glaube, bei mir hat es geklappt, weil ich mich getraut habe zu sagen: ‚Ich bin neu hier und ich versuche, Freunde zu finden.’ Und von da an habe ich einfach immer zugesagt, wenn Leute mich irgendwohin eingeladen haben. Vor Ort habe ich mir dann Mühe gegeben, mit Leuten in Kontakt zu treten und mich zu unterhalten.“
Auch mit jemandem eine engere Verbindung aufzubauen, den man eigentlich nur ein bisschen kennt, kann manchmal schon einen großen Unterschied ausmachen. Die Psychologin Lucy Atcheson, die sich auf Beziehungsthemen spezialisiert hat, rät: „Überleg dir, was du gerne machst. Vielleicht ergibt sich dort die Möglichkeit, Freunde zu finden.“ Vielleicht kommt es einem seltsam vor, eine wildfremde Person im Fitnessstudio anzusprechen. Aber eventuell gibt es ja in einem Kurs, den man regelmäßig besucht, jemanden, den man sympathisch findet. Wenn man sich beim nächsten Mal die Matte oder das Fahrrad neben dieser Person schnappt, ist ein unverkrampfter Gesprächseinstieg gar nicht mehr so schwierig. „Einige Tipps hört man immer wieder. Und sicher ist es eine gute Idee, einem Buchclub beizutreten. Aber ein Gespräch mit jemandem zu beginnen, dem man schon öfter mal über den Weg gelaufen ist, kann auch eine tolle Möglichkeit darstellen“, sagt Atcheson.
Sie warnt außerdem vor den Auswirkungen von Social Media. Indem Menschen über digitale Kanäle kommunizieren, treten sie seltener in persönlichen Kontakt, was das Gefühl von Einsamkeit verstärken kann. Aber solange virtuelle Kontakte die realen nicht ersetzen oder eben zu Offline-Kontakten werden, ist das Internet immer noch ein sehr guter Ort, um jemanden zu finden, der die gleiche seltsame Band wie man selbst liebt oder weiß, welche Kunstausstellung dieses Wochenende genau das richtige für eine*n sein könnte.
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Die 29-jährige Stephanie Phillips arbeitet in London freiberuflich als Schriftstellerin und Musikerin. „In der Uni wollte ich mich mit Musik und Politik beschäftigen. Leider hatte ich niemanden, der sich auch für diese Themen begeistern konnte. Ich schrieb damals für einen Musikblog. Darüber stieß ich zufällig auf ein Festival, das noch Leute gesucht hat, die Lust hatten bei der Organisation zu helfen.“ Stephanie meldete sich freiwillig. Die Leute, die sie während der Arbeit beim Festival traf, öffneten ihr nicht nur die Türen zu Londons Punk- und DIY-Szene, sondern halfen ihr auch dabei, ihre erste Band zu gründen. „Seitdem läuft es von ganz allein“, erzählt Stephanie.
Sie glaubt, dass es vor allem darum geht, einen Einstieg zu finden. „Indem ich das Festival mitorganisiert habe, war ich gezwungen, mit vielen Leute zu reden. So habe ich jede Menge neue Leute getroffen. Ich war früher ziemlich schüchtern. Durch die Aufgabe hatte ich etwas Konkretes zu tun. Das hat es sehr viel einfacher für mich gemacht, mehr über die Musikszene zu lernen, öfter zu Gigs zu gehen und auf natürliche Art und Weise mehr Leute zu kennenzulernen.“
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Nicht alle Freundschaften halten ein Leben lang. Aber alle Bindungen, die wir eingehen, können bedeutsam und wertvoll sein, solange alle Beteiligten sich gut, bestätigt und gewürdigt fühlen.
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An einem Projekt teilzunehmen, bei dem man sich auf Aufgaben und Deadlines konzentrieren kann, kann auch dabei helfen, seine Angst vor Zurückweisung zu überwinden. Atcheson erklärt, dass es sich dabei leider oftmals um eine selbsterfüllende Prophezeiung handelt. „Manche wissen sich nicht anders zu helfen, als andere Menschen von Beginn an negativ einzuschätzen, einfach um selbst nicht negativ eingeschätzt werden zu können. Sie erwarten schon fast, abgelehnt zu werden. Um sich die Enttäuschung zu ersparen, die diese Situation mit sich bringt, lehnen sie die anderen von vornherein ab.“ Um aus dieser Verhaltensweise auszubrechen, empfiehlt Atcheson, sich bewusst eine positivere Haltung anderen gegenüber anzueignen und den Teufel nicht an die Wand zu malen. „Dass der oder die andere dich ablehnt, ist nicht unvermeidbar. Allerdings könnte man auch eine Verbindung zueinander aufbauen oder einfach nur eine tolle Erfahrung machen.“
Es versteht sich von selbst, dass nicht jeder Mensch, auf den wir treffen, zu unserem besten Freund wird. Nichtsdestotrotz könnte diese Person ja eine nette Begleitung für lange Spaziergänge, Museumsbesuche oder Theaterabende werden. Atcheson rät: „Versuch, dir selbst zu sagen: ‚Ich suche ein Thema, über das ich mit der anderen Person connecten könnte, anstatt davon auszugehen, dass wir gar nicht miteinander connecten werden.’“ Es geht einfach um Ebenen, Kontexte und Orte. Nicht alle Freundschaften halten ein Leben lang, aber alle Bindungen, die wir eingehen, haben das Potential dazu. Zu sehr unter Druck setzen sollte man sich selbst aber auch nicht, sagt Atcheson. „Manchmal passt es eben auch einfach nicht, das gehört zum Leben dazu. Wir müssen nicht zwanghaft nach Freunden oder Freundinnen suchen, die für immer und ewig an unserer Seite bleiben. Und auch wenn man mal Zurückweisung erlebt, ist das kein Grund zu verzweifeln. Manchmal ist das Gegenüber einfach in einer anderen Situation oder Lebensphase als man selbst.“
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