Da ich keinen Kontakt zu meinen Eltern habe und dem Großteil meiner erweiterten Familie noch nie besonders nahe stand, weiß ich während der Feiertage oft nichts mit mir anzufangen. Wann immer ich meiner Familie an den Festtagen dann doch einen Besuch abstatte, fühle ich mich deshalb völlig fehl am Platz. Dieses Gefühl verstärkt sich nur noch weiter, wenn ich dann auf Instagram und Facebook Fotos von anderen Familien sehe, bei denen der Haussegen nicht schief zu hängen scheint. Weil ich mich an den Feiertagen immer extrem einsam fühle, versuche ich dann normalerweise, mit Freund:innen zu feiern. Aufgrund der Pandemie ist dieses Jahr aber alles anders und wir alle sitzen gewissermaßen im selben Boot: Wir versuchen, uns irgendwie über Wasser zu halten und herauszufinden, wie wir die anstehende „schönste Zeit des Jahres“ zusammen, getrennt voneinander, verbringen können.
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Für manche von uns hat die Pandemie eine erfreuliche Nebenwirkung: Diejenigen, denen es vielleicht schon davor graut, während der Feiertage nach Hause zu fahren, oder die einfach keine Lust darauf haben, haben jetzt eine Ausrede, ihre Verwandten nicht sehen zu müssen. Weil es aus Sicherheitsgründen ratsam ist, zu Hause zu bleiben, kannst du dieses Jahr also dein eigenes Ding durchziehen. Du kannst dir Zeit nehmen, um herauszufinden, was „sich zu Hause fühlen“ tatsächlich für dich bedeutet. Du hast jetzt die Chance, dieses Gefühl selbst zu kreieren. Vielen Menschen gelingt es, der Situation etwas Positives abzugewinnen. Wenn du dich also etwas darüber freust, dass du die Feiertage dieses Jahr zu Hause verbringen kannst, stellst du damit sicherlich keine Ausnahme dar. Es macht dich auch nicht zu einem schlechten Menschen.
Trotz aller Verluste, die viele von uns dieses Jahr verkraften mussten, und allem, was in 2020 bisher so passiert ist, hat das Ganze meiner Meinung nach aber etwas Gutes: die Chance, deine Wahlfamilie zu finden, Beziehungen aufzubauen oder zu stärken. Jetzt haben wir mehr Zeit für unsere Mitbewohner:innen und Aktivitäten mit unseren Partner:innen und dafür, ein gemütlicheres, gemeinsames Zuhause zu sorgen. Du kannst deine Feiertage selbst gestalten und dabei auch gerne aus dem Rahmen fallen.
Dieses Jahr bietet vielen von uns eine Auszeit von dem Stress, den ein Familienbesuch während der Feiertage normalerweise sonst so auslöst. Aufgrund der diesjährigen Umstände können manche von uns diese besondere Zeit erstmals mit ihren Partner:innen verbringen – so wie Karl. Vor fast einem Jahr outete sich Kal als nicht-binär vor ihrer Familie und ist seit dem Outing nicht mehr zu Besuch gewesen. Jetzt hat Kal zum ersten Mal die Gelegenheit, während der Festtage bei ihrer besseren Hälfte zu sein.
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„Sogar jene Familienmitglieder, die sich Mühe geben, haben immer noch mit meinem Namen zu kämpfen und verwenden das falsche Pronomen. Vor einigen meiner Onkeln, habe ich mich aber noch nicht einmal geoutet – meines eigenen Seelenfriedens willen. So kleinkariert wie die sind… Jetzt kann ich aber zu Hause bleiben, ohne dabei die üblichen Schuldgefühle zu haben, weil ich meine Familie nicht oft genug besuche. Ich bin so erleichtert! Das ist das einzig Gute an der Pandemie“, sagen sie. Sie können jetzt erstmals die freien Tag genießen, ohne herumfahren zu müssen oder Freizeitstress zu haben. „Ich hoffe, dass die Weihnachtsmärkte – mein Höhepunkt während der Feiertage – wieder öffnen, dass ich eine meiner Lieblingssendungen in einem Durchgang schauen kann und dass ich endlich tatsächlich die Zeit finde, ein Buch zu lesen“.
Andere stehen ihrer Familie ziemlich nahe und haben eigentlich nichts dagegen, die Feiertage im Kreise ihrer Liebsten zu verbringen. Das bedeutet aber nicht, dass bei ihnen immer Friede, Freude, Eierkuchen herrscht. „In den letzten ein oder zwei Jahren habe ich mich mehr davor gesträubt, nach Hause zu fahren, weil sich bei meinen Besuchen alles um Ernährung und Gewicht drehte. Meine Mutter drängt mir ihr schlechtes Verhältnis zum Essen auf: An manchen Tagen spricht sie mehr über Rezepte als über andere Themen. Sie wirkt orthorexisch, also besessen von gesundem Essen“, sagt Cait, eine Frau in ihren Zwanzigern, die in New York lebt. „Mein Körper ist sowieso schon ständig sehr kritischen Blicken ausgesetzt. Familienbesuche verschlimmern mein bereits gestörtes Essverhalten nur noch weiter. Ich stimme zu, alle Mahlzeiten zu essen, die meine Mutter zubereitet. Am letzten Tag esse ich diese Mahlzeiten nicht einmal mehr zu Ende. Als ich das letzte Mal zu Besuch war, kaufte sie mir eine Waage.“
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Cait weiß noch nicht genau, was sie dieses Jahr an den Feiertagen machen wird. Es mache ihr aber nichts aus, einmal ohne Familienbesuch auskommen zu müssen. „Ich werde wahrscheinlich wie immer einfach zu Hause bleiben und nichts Besonderes machen. Ich bin jetzt sowieso nicht wirklich in Feierstimmung“, erklärt sie. Sie ist aber erleichtert, dass die Feiertage dieses Jahr weniger stressig für sie ausfallen werden. Wenn sie ihre Familie besucht, muss sie immer Schuldgefühle haben, wenn sie sich Zeit für sich selbst nimmt. In ihren eigenen vier Wänden kann sie aber länger schlafen und kochen, was sie will. Sie kann ihre eigenen Regeln aufstellen und ihrem persönlichen Rhythmus folgen.
Da die Festtage dieses Jahr gewaltig aus der Reihe tanzen, kann es also passieren, dass du dich von dieser gedrückten Stimmung überwältigt fühlst. Klar fällt dir dabei manchmal die Decke auf den Kopf. Schließlich haben wir alle genug am Hals: von saisonalen Depressionen, mit denen wir kämpfen, bis zu Verlusten, die wir zu verarbeiten versuchen. Es ist absolut in Ordnung, dich auf diese Emotionen einzulassen und zu trauern, falls nötig. Das Gute ist, dass du den Spieß selbst umdrehen kannst. Ich, zum Beispiel, möchte die Feiertage nicht wie in den vergangenen Jahren damit verbringen, mich in Selbstmitleid zu suhlen. Ich möchte backen und die Gesellschaft meiner Mitbewohner:innen genießen. Ich möchte Trost in den Dingen finden, die ich für mich selbst tun kann, Trost in dem Wissen, dass sich alles verändert und Gutes dennoch immer noch existiert. Positives ergibt sich oft dann, wenn du beschließt, loszulassen und Umstände, die du nicht verändern kannst, zu akzeptieren.
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Eines meiner letzten großen Konzerte vor dem Ausbruch der Pandemie war im Juni 2019: Death Cab von Cutie und Jenny Lewis in New York. Obwohl ich eigentlich vorhatte, allein hinzugehen, stellte sich heraus, dass die meisten meiner Freunde ebenfalls Tickets hatten. Während Transatlanticism musste ich irgendwann weinen. Als ich mich umblickte, bemerkte ich, dass die Leute um mich herum ebenfalls Tränen vergossen. Dieser kollektive Gefühlsausbruch schuf eine Verbundenheit zwischen uns allen. Es führte mir vor Augen, dass wir im Kern alle gleich sind – egal, was wir gerade so durchmachen. Für mich war diese Erfahrung unglaublich tröstlich und schön. Genauso geht es mir damit, dass viele von uns an den diesjährigen Feiertagen nicht nach Hause fahren können. Wir müssen aber nicht alleine mit dieser neuen Realität zurechtkommen: Wir haben ja Freunde und unser soziales Netz, wenn derzeit auch nur per SMS oder online erreichbar.
Vielleicht stehst du deiner Familie nahe und bist am Boden darüber zerstört, dass ihr dieses Jahr aus Sicherheitsgründen nicht zusammen feiern könnt. Aber Kopf hoch: Probier doch ein Rezept, das du liebst und perfektioniere deine Koch- und Backkünste oder lass das Kochen dieses Jahr einfach sein. Bestell stattdessen etwas bei einem neuen Restaurant deiner Wahl und gönn dir dein Lieblingsessen, Nimm dir Zeit, um innezuhalten und nachzudenken.
Das Schöne ist, dass wir dieses Mal die Feiertage so gestalten können, wie wir wollen und dass wir wissen, dass wir nur dort richtig sind, wo wir selbst und die Menschen, die wir lieben, in Sicherheit sind.
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