„Letztes Jahr ging ich mit einem Typ eine zweiwöchige Beziehung ein, nur um sagen zu können, dass ich einen festen Freund habe. Es war meine erste Beziehung“, erzählt die 32-jährige Jazzmusikerin Robyn. „Doch als ich ihn dann datete, stellte ich fest, wie viel Zeit ein Freund in Anspruch nimmt. Deswegen war ich auch erleichtert, als es vorbei war.“
„Wir haben uns getrennt, weil ich, wenn ich müde bin, allein sein will. Wir hatten uns für das Wochenende verabredet, aber ich hatte eine Studio-Session am Freitag und wollte danach einfach für mich sein. Er nahm meine Absage total persönlich, woraufhin ich meinte, dass ich nicht denke, dass unsere Beziehung eine Zukunft hat. Ich hatte das Gefühl, klar und deutlich kommuniziert zu haben und fühlte mich von ihm unter Druck gesetzt.“
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Robyn identifiziert sich selbst als Frau mit Autismus. Die Diagnose erhielt sie, als sie 11 Jahre alt war. Autismus wird in der Medizin als tiefgreifende Entwicklungsstörung bezeichnet und dauert ein Leben lang an. Er beeinflusst beispielsweise, wie Autist*innen mit anderen Menschen kommunizieren und allgemein mit ihrer Umwelt interagieren.
Autist*innen weisen häufig einige ähnliche Charakterzüge und Persönlichkeitsmerkmale auf. Beispielsweise fällt es ihnen oft schwer, ihre Gefühle auszudrücken oder die anderer richtig zu interpretieren. Außerdem nehmen sie Sprichwörter oft wörtlich und sind häufig empfindlicher gegenüber Reizen wie Geräuschen, Berührungen, Geschmäckern, Gerüchen oder Licht. Doch die Symptome können von Person zu Person sehr unterschiedlich sein, was daran liegt, dass es sich um ein Spektrum mit verschiedenen Ausprägungen handelt.
Wie Autismus aus biologischer Sicht entsteht, ist noch immer nicht ganz bekannt, man weiß nur, dass es kein „Heilmittel“ gibt. Auch genaue Zahlen zur Häufigkeit von Autismus in Deutschland gibt es noch nicht, allerdings geht man von einer weltweiten Prävalenz von 0,6 bis 1 Prozent aus. Auffällig ist, dass Jungen viermal häufiger betroffen sind als Mädchen.
Für Autist*innen kann Dating eine nervenaufreibende Sache sein. Besonders schwer ist es im Schnitt für Frauen, da es ihnen noch seltener gelingt, Gefühle und romantische Gesten zu interpretieren. Oft merken sie deshalb nicht, wenn jemand Interesse an ihnen hat oder mit ihnen flirtet.
„Ich hatte schon immer Probleme damit, Zeichen wahrzunehmen“, sagt die 27-jährige Erin. Sie arbeitet in der Wohltätigkeitsbranche und identifiziert sich als queere autistische Autorin und Aktivistin. „Wenn ich eine Person mag, dann mag ich sie so richtig. Aber ich weiß nie, wie ich das kommunizieren soll. Manche Autist*innen sind sehr gut in Liebesdingen. Ich hatte noch nie eine richtige Beziehung, aber ich habe mich mal mit einer Frau, die ich sehr mochte, auf einen Kaffee getroffen und ihr erzählt, dass ich noch nie wirklich gedatet habe. Sie antwortete nur: ‚Oh okay, das müssen wir schnellstens ändern, oder?‘ und ludt mich zu sich zum ‚Lernen‘ ein. Am Ende haben wir tatsächlich die ganze Zeit was für die Uni gemacht, weil ich einfach nicht geraffte habe, dass sie mit mir flirtete! Ich habe sie nie wieder gesehen. Ich glaube, sie dachte, ich sei ein bisschen komisch.“
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Im Nachhinein können solche verpassten Gelegenheiten oder ähnliche Situationen vielleicht lustig wirken, doch für Autist*innen ist es oft extrem frustrierend und traurig, die eigenen Gefühle nicht rüberbringen zu können.
„Ich hatte ganz starke, romantischen Gefühle für einen Typen an der Uni, aber ich wusste nicht, wie ich sie zeigen soll. Es war sehr unangenehm für mich und ich fühlte mich sehr hilflos“, erzählt Erin. „Es brach mir das Herz, als ich herausfand, dass er eine feste Freundin gefunden hatte, bevor ich überhaupt die Chance hatte, ihm von meinen Gefühlen zu erzählen. Ich bin schnell besessen von einer Person und damals drehte sich meine ganze Welt nur noch um ihn. Am Ende bin ich sogar von Wales nach Essex gezogen, weil ich nicht anders mit meiner Verzweiflung umgehen konnte. Gedatet habe ich auch nicht mehr, weil ich dachte: Es tut zu sehr weh. Ich glaube, damit kann ich nicht umgehen.“
Was die Sache für Erin noch schwieriger macht ist, dass sie – wie so viele Frauen – die Diagnose erst sehr spät bekam, nämlich erst mit 23. Bis dahin bekam sie also nicht die Unterstützung, die sie gebraucht hätte und konnte sich einige isolierende Erfahrungen nicht erklären. „Ich konnte es nicht wirklich genießen, ein Teenie zu sein. Ich wusste nicht richtig, wer ich war, was ich fühlte, wer attraktiv war. Alle begannen, zu daten, aber ich wollte das nicht. Ich glaube, ich habe mich irgendwann in meine beste Freundin verliebt. Damals konnte ich dieses Gefühl allerdings überhaupt nicht deuten.“
Es gibt viele Gründe dafür, dass Autismus bei Frauen weniger häufig diagnostiziert wird. Der Hauptgrund dafür ist, dass Frauen und Mädchen besser darin sind, ihre Probleme zu überspielen. Eine andere, jedoch sehr umstrittene Theorie besagt, es gäbe einen „weiblichen Autismusphänotyp“ (Erscheinungsform), der nicht mit dem üblichen Profil männlicher Betroffener übereinstimmt. Die meisten Bewertungsmethoden basieren jedoch auf Letzteren und werden bei der Untersuchung von Frauen nicht immer angepasst.
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Erin kämpfte für ihre Diagnose, nachdem eine autistische Freundin sie dazu ermutigte, die sie online durch die gemeinsame Faszination für Doctor Who kennengelernt hatte. „Diagnostiziert zu werden half mir dabei, zu realisieren, wer ich bin und warum ich manche Sachen so mache, wie ich sie mache. Außerdem fühlte ich mich nicht mehr so allein, weil ich auf einmal Teil einer Gruppe war, in der man mich verstand. Der Befund war das Beste, was mir passieren konnte. Mein Leben ist nicht immer gut oder einfach, aber nach der Diagnose passierten viele gute Dinge.“
Amy Gravino, die sich selbst auch auf dem Autismus-Spektrum bewegt, ist eine internationale Sprecherin und Autismusberaterin aus New York. „Alle wollen geliebt und wertgeschätzt werden, aber für Frauen mit Autismus ist das Verlangen danach besonders stark. Oft wollen sie so sehr dazugehören, dass sie ihre eigenen Bedürfnisse vergessen. Wenn ein niedriges Selbstbewusstsein auf Vertrauensprobleme trifft, ist (Liebes-)Kummer praktisch vorprogrammiert. Doch diese Charakterzüge abzulegen, fällt ihnen sehr schwer.“
Das ist etwas, das Robyn ebenfalls sehr herausfordernd fand. Autist*in zu sein sei ihrer Meinung nach, als würde man jedes Zusammentreffen mit Menschen doppelt so intensiv wie andere erleben. „Als ich mit dem Dating anfing, war ich so nervös, dass ich regelmäßig Magen-Darm-Probleme hatte. Ich hatte Angst, schlecht behandelt zu werden. Angst, manipuliert zu werden. Und es fällt mir auch heute noch schwer, festzustellen, ob jemand die Wahrheit sagt oder nicht.“
Während manche Frauen mit Autismus spezielle Datingplattformen für Autist*innen bevorzugen, streckt Robyn ihre Fühler lieber in alle Richtungen aus. Sie benutzt Apps wie Tinder und Websites wie PlentyOfFish und Match.com, weil sie „inklusiver sein möchte. Schließlich weiß ich, wie es sich anfühlt, ausgegrenzt zu werden. Ich bin mehr als nur ‚nicht-neurotypisch‘ und richte mich beim Matchen lieber nach Hobbys und nicht nach Diagnosen.“
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Michelle Watson ist 40 Jahre alt. Kurz nachdem bei ihrem Bruder das Asperger-Syndrom diagnostiziert wurde, gründete sie My Favourite Hello – eine Datingsite für Menschen auf dem Autismus-Spektrum und Menschen mit Lernbehinderungen. Aktuell nutzen etwa 1.000 Menschen die App. „Letzte Woche hat uns ein Paar, das sich über My Favourite Hello kennengelernt hat, geschrieben, dass sie heiraten wollen. Außerdem haben uns schon einige Nutzer*innen gebeten, ihre Profile zu löschen, weil sie dank uns jetzt in festen Beziehungen sind“, berichtet Michelle. „Wir matchen Leute basierend auf ihrem Kommunikationsstil, ihrer Art mit Veränderungen umzugehen und Emotionen zu regulieren. Dafür haben wir versucht, einen freundlichen, herzlichen Ort zu schaffen. Ich möchte aber betonen, dass wir auf keinen Fall sagen, Menschen mit Autismus dürfen oder sollten ausschließlich mit Autist*innen ausgehen! Wir wollen ihnen einfach nur eine zusätzliche Plattform bieten.“
Lauren arbeitet ehrenamtlich für Dimensions, eine Organisation, die Menschen mit Lernbehinderungen und Autismus unterstützt. Die 17-Jährige hat sich irgendwann bewusst gegen Apps entschieden und beschlossen, jemanden im echten Leben kennenlernen zu wollen. Seit einem Monat ist sie mit Miley zusammen. Die beiden haben sich an der Uni kennengelernt hat und „erst war sie nur eine gute Freundin und dann hat sich mehr daraus entwickelt“, so Lauren. „Miley hat eine Zerebralparese, seit sie ein Kind ist. Sie bringt mich ständig zum Lachen und ist sehr süß und fürsorglich. Und wir mögen dieselben Serien. Die Erfahrungen, die wir durch unsere jeweiligen Diagnosen gemacht haben, schweißen uns nur noch enger zusammen. Gelegentlich fällt es mir schwer zu reden und Miley hat extra für mich Gebärdensprache gelernt, damit wir dann trotzdem kommunizieren können. Wenn sich jemand für dich so viel Mühe macht und wirklich versucht, die Probleme die du hast zu verstehen, ist das so viel wert. Es macht das Leben ein kleines bisschen einfacher.“