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Warum Frauen so auf Fanfiction über Sex zwischen Männern stehen

„Mich reizt schon die Vorstellung von einem heißen Mann. Kein Wunder also, dass mir auch die Vorstellung von zwei heißen Männern gefällt“, schrieb die anonyme Userin Dark Twin 2004 in ihrem Versuch einer Erklärung dafür, wieso sie als heterosexuelle Frau so auf Slash Fiction steht. „Und wenn diese zwei heißen Männer dann was miteinander anfangen, komme ich vor lauter Begeisterung gar nicht mehr klar.“ Aber lass uns kurz zurückspulen: Was genau ist Slash Fiction, auch bekannt als „Slash“ oder „Slashfic“? Das sind von Fans geschriebene Storys über zwei (oft männliche, größtenteils heterosexuelle) Charaktere aus Filmen, Serien, Büchern und so weiter, denen plötzlich bewusst wird, dass sie sich ineinander verliebt haben (oder zumindest aufeinander stehen). In vielen Fällen kommt es dann zum Sex (und zwar jeder Menge Sex). Und das Genre wird vor allem von cis Frauen dominiert – ob nun auf Fansites oder immer häufiger auch TikTok.
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Weil das Internet seit 2004 ordentlich gewachsen ist, beschränken sich Fan-Communitys und ihre jeweiligen Slash-Kombinationen natürlich längst nicht mehr nur auf die kleine Ecke der Online-Welt, in der Dark Twin damals ihren Text postete. Zu den beliebtesten „Paaren“ der letzten 20 Jahre gehören Draco Malfoy und Harry Potter (bekannt unter dem Namen „Drarry“) mit knapp 60.000 Storys auf der Fan-Fiction-Seite Archive Of Our Own (AO3) aus Harry Potter; Dean Winchester und Castiel (bekannt als „Destiel“ mit rund 103.000 Fanfictions) aus Supernatural; Bucky Barnes und Steve Rogers („Stucky“, rund 41.000) aus Captain America; und Sherlock Holmes und John Watson („Johnlock“, fast 60.000) aus der TV-Serie Sherlock. Die meistgelesene Fanfiction auf AO3 aller Zeiten handelt von zwei anderen Harry-Potter-Charakteren: Sirius Black und Remus Lupin. Slash Fiction beschränkt sich auch nicht ausschließlich auf fiktive Figuren, sondern kann sich auch um echte Menschen drehen (aus ethischer Sicht wohl eine Grauzone), wie die Kombi aus Harry Styles und Louis Tomlinson („Larry“ oder „Larry Stylinson“, fast 40.000 Fics) aus One Direction beweist. Und hier zählen wir andere Seiten – wie Tumblr, TikTok, Wattpad und Fanfiction.net – noch nicht mal mit.
Außerhalb dieser Online-Communitys können viele den Reiz solcher Fan-Storys nicht verstehen. Dass eine (größtenteils weibliche) Leser:innenschaft total auf die Vorstellung stehen könnte, dass sich Frodo und Sam aus Der Herr der Ringe („Frowise“, mehr als 1.100) verliebt in die Augen schauen, oder dass Tom Wambsgans und Greg Hirsch („TomGreg“/„The Disgusting Brothers“, rund 1.200) leidenschaftlich rummachen, ist für viele nicht nur schwer nachvollziehbar, sondern kaum noch akzeptabel. Schnell werden Fans solcher Fanfiction dann als „seltsam“ oder sogar „krank“ abgestempelt. Immerhin sollte sich eine heterosexuelle oder queere Frau, die auf Männer steht, doch eigentlich erotische Storys wünschen, in denen sie sich selbst wiedererkennt, oder? Und wieso sollte eine queere Frau, die sich kaum oder gar nicht für cis Männer interessiert, so auf erotische Geschichten über Männer stehen? Was genau ist der Reiz von Slashfic? Und wieso lesen das so viele? 
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Die Zahl der Autor:innen und Leser:innen von Slashfic ist nur eine Schätzung, doch ergab eine Umfrage von 2022 unter 5.000 AO3-User:innen, dass m/m-Slash (also „Mann/Mann“) die beliebteste Kategorie zu sein scheint, und 26 Prozent der Befragten gaben an, Slashfic zu lesen. Die meisten dieser Leser:innen und Autor:innen waren cis Frauen: Von den 5.000 Befragten waren 53,77 Prozent cisgender Frauen, 13,43 Prozent nichtbinär und 8.94 Prozent transgender (cis Männer brachten es nur auf 5,39 Prozent). Die Fans und Autor:innen von Slash sind außerdem – wie viele der fiktiven Paare – weiß: 77,9 Prozent der Befragten identifizierten sich als weiß. (Das Phänomen, dass die meisten fiktiven Paare aus beliebten englischsprachigen Medien ebenfalls weiß sind, nennt sich übrigens „Two White Guys“. Auch andere Kulturen haben ähnliche, slash-artige Fiktion – wie Yaoi, bekannt als „Boys’ Love“ (BL), im japanischen Manga und Anime.)

Wenn du einen Mann sexy findest, bedeutet „doppelt so viel Mann“, zumindest in der Theorie, eben „doppelt so sexy“. Aber für die meisten Leser:innen lässt sich der Reiz von Slash eben nicht so simpel erklären.

Auf den großen beliebten Fanfiction-Seiten findet man aber durchaus auch Slash über zwei Frauen („f/f“ oder „Femslash“), heterosexuelle („m/f“ oder „Hetslash“) und andere LGBTQ+-Paare. Auch die können – keine Überraschung – so beliebt sein wie m/m-Slash, wie Clarke und Lexa aus The 100 beweisen (etwa 12.500 Fics mit dem Tag „Clexa“ auf AO3). Aber m/m-Slash ist eben doch am beliebtesten. Jetzt gerade gibt es über fünf Millionen Fics mit dem Tag „m/m“ auf AO3.
Aber woher kommt Slash denn überhaupt? Dazu müssen wir uns die Wurzeln von Fanfiction im Allgemeinen ansehen. Die meisten Expert:innen bezeichnen Star Trek (das 1966 an den Start ging) als das erste Fandom, dessen Fans anfingen, das Universum der Serie auf kreative Art neu zu interpretieren. Damit ging dann auch das erste Slash-Paar überhaupt einher: Kirk/Spock. Die Frauen, die sich diese Storys ausdachten und sie lasen – die damals noch per Post verschickt wurden –, waren größtenteils Frauen. Viele von ihnen waren heterosexuell, viele aber auch nicht. 
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Online findet man viele Theorien dazu, was genau den erotischen Reiz von Slash denn eigentlich ausmacht. Manche versuchen, diese Frage mit einer vereinfachten Gleichung zu beantworten, die an Dark Twins Begründung von 2004 erinnert: Wenn du einen Mann sexy findest, bedeutet „doppelt so viel Mann“ eben „doppelt so sexy“. Aber für die meisten Leser:innen lässt sich der Reiz von Slash eben nicht so simpel erklären.
Mel Stanfill (they/them) unterrichtet an der University of Central Florida im Fachbereich Texte und Technologien und war mitverantwortlich für die 2022er-Umfrage auf AO3. Mel erzählt Refinery29: „In solchen Fan-Umfragen wird der Reiz [von Slash] meist damit erklärt, dass es diese Geschichten Frauen erlauben, ihre Sexualität zu erkunden, ohne dabei die eigene Identität und Gender-Normen berücksichtigen zu müssen, mit denen sie im wahren Leben konfrontiert sind. Weil Slash mit ihnen persönlich nichts zu tun hat und etwas Abstraktes ist, gewähren ihnen diese Storys mehr Freiraum, mehr Möglichkeiten.“ Das heißt zum Beispiel, dass sich unsere realen Gender-Dynamiken in Sachen Romantik und Sex nicht zwangsläufig in der Story widerspiegeln müssen. Sie können einfach entfernt oder abgeändert werden – und so ist es eben möglich, dass die männlichen Charaktere beispielsweise offen über ihre Gefühle sprechen, oder dass Figuren aus männerdominierten Franchises dem female gaze, dem weiblichen Blick, angepasst werden.
Slash Fiction, die in bestehenden Story-Universen spielt (wie eben Harry Potter, Star Wars, und so weiter), hat einen weiteren Vorteil: Leser:innen kennen die Charaktere und ihre Beziehungsdynamiken bereits, bevor sie überhaupt mit dem Lesen anfangen. Wie auch unsere Kultur-Redakteurin Michelle Santiago Cortés schon über „Smut“ schrieb (der Überbegriff für alle erotischen Fanfictions): „Fanfiction-Autor:innen können komplexe und emotional aufgeladene Sexszenen in genau derselben Zeit schreiben, die eine vollbusige Hausfrau auf Pornhub braucht, um festzustellen, dass sie nicht genug Geld hat, um den Pizzalieferanten zu bezahlen.“
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Die Bereiche der Sexualität, die in Fanfiction erkundet werden können, gehen außerdem über die Realität vieler Leser:innen hinaus. Dr. Lynn Zubernis, Psychologin, Autorin von Fangasm und Verfasserin sowie Leserin von Slash, erklärt uns: „In Fanfiction können Dinge wie Gewalt, rauer Sex, BDSM und ungewollter Sex mit männlichen Körpern ‚ausprobiert‘ werden, weil [die Fiktion] nicht so bedrohlich ist.“ 
Obwohl cis Frauen, wie Stanfill sagt, zwar „das Gravitationszentrum in der Slash-Community“ sind, identifizieren sich von ihnen tatsächlich sehr viele als queer: Nur 13,92 Prozent der auf AO3 Befragten gaben an, heterosexuell zu sein; der größte prozentuale Anteil hingegen ist bisexuell (24,83 Prozent).

Vor allem in m/m-Fics fand ich Formen von Liebe, Beziehungen und echt heißem Sex, von denen ich nie geglaubt hatte, sie seien für mich überhaupt möglich. Dadurch fühlte ich mich auf eine Weise verstanden, die ich vorher nie erlebt hatte.

Quinn, 25 (er/ihm)
Das wirft ein anderes Licht auf die Nachfrage nach Slash für Frauen und jene, denen bei der Geburt das weibliche Geschlecht zugeschrieben wurde. Wenn alle Leser:innen und Autor:innen nicht bloß cis, sondern auch heterosexuell wären, würde die Besessenheit von queeren, männlichen Charakteren in der Fanfiction-Community Fragen rund um Voyeurismus und Fetischisierung aufwerfen. Wenn Slash aber hingegen als etwas verstanden wird, das queere Menschen nutzen, um Sex und Lust außerhalb des Mainstreams zu erkunden, ändert sich unser Blickwinkel auf diese Form von Fanfiction.
Die 35-jährige Cynthia (sie/ihr) ist eine bisexuelle Frau, die Slash über The Prince of Tennis kennenlernte – einen Manga (das sind Comics oder Graphic Novels aus Japan) über eine Gruppe Schüler einer Jungenschule, die in Tennisturnieren antreten. Sie fing an, diese Fanfictions zu lesen, als sie selbst noch auf ein Mädcheninternat ging; was sie daran reizte, war aber weniger die erotische Natur der Storys, als die Darstellung dessen, wie eine Beziehung zu einem Mann für sie aussehen könnte. „Zu dieser Zeit hinterfragte ich, ob ich mich je zu jemandem (einem Mann) so hingezogen fühlen könnte, dass ich mit dieser Person eine Beziehung eingehen würde“, erzählt sie. „Ich überlegte mir, ob es mir nicht lieber wäre und sogar reichen würde, Leute, die ich liebe, dabei zu unterstützen, einander zu lieben.“
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Slash ist auch eine leicht zugängliche Option, die eigene Gender-Identität zu erforschen. Der 25-jährige Quinn (er/ihm) ist ein schwuler trans Mann, der uns erzählt, Slashfic als Teenager zu lesen, habe seinen Horizont „enorm erweitert“. Als er damit anfing, war ihm gerade erst klar geworden, dass er nicht heterosexuell sein musste, und sich nicht sicher war, ob er wirklich eine Frau war. Via Fanfiction entdeckte er eine Form von Sex, die ihm nicht das Gefühl gab, völlig von seinem Körper losgelöst zu sein, und fand diverse Facetten von Romantik und Lust, mit denen er sich identifizierte.
„Vor allem in m/m-Fics fand ich Formen von Liebe, Beziehungen und echt heißem Sex, von denen ich nie geglaubt hatte, sie seien für mich überhaupt möglich“, erzählt Quinn. „Dadurch fühlte ich mich auf eine Weise verstanden, die ich vorher nie erlebt hatte. Ich war besessen davon.“
Obwohl Slash also durchaus viel sexuelle Freiheit mit sich bringt, enthält das Genre doch gewisse patriarchalische Stereotypen. Es wird oft betont, dass seine Besessenheit von penetrativem Sex sehr weit davon entfernt ist, wie Sex zwischen queeren Männern wirklich aussieht. Sex und Romantik werden in diesen Storys auch oft „re-heterosexualisiert“: Viele Geschichten handeln von monogamen Beziehungen, in denen der kleinere vom größeren, stärkeren Partner dominiert (und penetriert) wird. Das kann zum Problem werden, wenn diese Storys dann veröffentlicht und verkauft werden – keine Neuheit in der Welt der schwulen Romantik-Fiktion. In Sachen Fanfiction geht es aber nicht darum, damit Geld zu machen. Diese Storys sind umsonst geteilte Ausdrücke von Kreativität, in denen Sex, Gender und Beziehungen auch außerhalb des Mainstreams erkundet werden können – nach dem Motto: Von allen, für alle. Und das ist heute noch genauso wahr wie 2004 und 1966.
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