Als die 25-jährige Azia Mery vor sieben Jahren zum ersten Mal versuchte, penetrativen Sex zu haben, schlug ihre Nervosität schnell in Panik um. Ihr damaliger Freund versuchte, sie zu beruhigen, während sie nackt in seinem Zimmer im Wohnheim saßen. „Als er seinen Penis auch nur ein kleines Stück reinschob, weigerte sich mein ganzer Körper dagegen“, erzählt sie Refinery29. „Er versuchte immer wieder, ihn reinzustecken, und plötzlich fühlte sich das an, als sei da eine Wand. Da kam nichts durch.“ Mery hatte enorme Schmerzen im Bereich ihrer Vagina, wusste aber nicht, wieso – oder was sie dagegen tun sollte. „Wir versuchten es im Laufe unserer Beziehung immer wieder mit dem penetrativen Sex, aber sein Penis kam einfach nicht rein“, sagt sie. Nach einiger Zeit vereinbarte sie einen Termin bei ihrer Frauenärztin, mit der Hoffnung auf Antworten. Die Gynäkologin hatte aber nur zwei nutzlose Tipps für sie: Benutz mehr Gleitgel – und trink ein bisschen Wein.
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Merys Erfahrung ist längst kein Einzelfall. Fünf bis 20 Prozent aller Frauen verspüren beim Sex irgendeine Form von Schmerzen. Expert:innen halten chronische vulvovaginale Schmerzen sogar für ein recht geläufiges Problem, und es gibt viele Gründe dafür, warum sie auftreten können – vom Alterungsprozess über psychologische Beschwerden und Traumata bis hin zu hormonellen Veränderungen.
Wegen dieser Vielzahl möglicher Auslöser läuft die Behandlung meist nach dem Motto „Einfach mal alles ausprobieren“, oder das Problem wird völlig ignoriert. Nach zwei Jahren, während der Mery erfolglos versucht hatte, Penis-in-Vagina-Sex zu haben, und sich von mehreren Ärzt:innen hatte untersuchen lassen, bekam sie endlich eine Diagnose: Vestibulodynie, eine Form der Vulvodynie, die chronische Schmerzen in der Nähe der vaginalen Öffnung verursacht, und Vaginismus, der dafür sorgt, dass sich die Wände der Vagina unfreiwillig zusammenziehen, vermutlich aufgrund von Muskelkrämpfen. Dadurch können penetrativer Sex und andere Dinge – wie das Einführen eines Tampons oder die gynäkologische Untersuchung – unglaublich schmerzhaft sein. Vaginismus gehört zu den genito-pelvinen Schmerz-Penetrationsstörungen und wird in zwei Kategorien unterteilt: primär (von Geburt an) und sekundär (mit späterem Auslöser).
Am Tag ihrer Diagnose bekam Mery eine Info-Broschüre und wurde dann nach Hause geschickt. „Ich zitterte“, erinnert sie sich. „Die Ärztin sagte zu mir: ‚Sie werden ein furchtbares Sexleben haben.‘“
Einer der Gründe dafür, warum sich Vaginismus so einsam anfühlen kann, ist die Tatsache, dass unsere Welt enorm heteronormativ geprägt ist. Das heißt: Lust und Leidenschaft werden oft mit penetrativem, Penis-in-Vagina-Sex verbunden – und wenn jemand dazu nicht fähig ist, wird automatisch davon ausgegangen, diese Person könne eben keinen guten Sex haben. Sex muss aber selbst für Menschen mit Vulva nicht zwangsläufig eine Penetration erfordern, denn Lust lässt sich auf viele Arten ausleben. Tatsächlich empfinden Menschen mit Vagina externe Stimulation sogar meist als intensiver als interne, meint die klinische Fachärztin Kirsten Pickard von der amerikanischen Gesundheitsorganisation FOLX Health. „Es gibt viele Möglichkeiten, Befriedigung und Lust zu erleben, ganz ohne Eindringen.“ Sie ergänzt: „Teil des Problems ist, dass wir die Unfähigkeit zur Penetration oder den fehlenden Wunsch danach als ‚krank‘ oder ‚falsch‘ empfinden.“ Vaginismus und andere Penetrationsstörungen gelten als sexuelle Funktionsstörungen; viele Betroffene mit Vulva haben aber nicht das Gefühl, „funktionsgestört“ zu sein.
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„Mit anderen Aspekten vom Sex hatte ich nie ein Problem, weder mit Lust, Erregung, Befriedigung, noch dem Orgasmus“, meint Noa Fleischacker (31), ebenfalls betroffen von Vaginismus. „Penetrativer Sex bedeutet für die meisten Menschen mit Vulva nicht mal unbedingt einen Orgasmus. Trotzdem meinen viele: ‚Du hast halt Schmerzen, also kann es sich für dich ja nie gut anfühlen.‘ Dabei gibt es so viele andere Möglichkeiten, lustvollen Sex zu haben.“
„Wir leben in einer Kultur, die Menschen mit weiblichem Körper abwertet, wenn sie sich nicht sexuell ausleben. Und ein Großteil dieser Sexualität dreht sich um Penetration“, meint Pickard. Und genau deswegen wird unser Wert – unabhängig davon, ob wir heterosexuell oder queer sind, eine Vagina haben oder trans sind – von unserer Fähigkeit abhängig gemacht, penetriert werden zu können, erklärt Pickard.
Das kennt auch die 24-jährige Tori*. Sie hat vor Kurzem ihren Abschluss an der Vanderbilt University gemacht – eine Uni, an der lockerer Sex zum guten Ton gehört, meint sie. „Ich hatte was mit Typen und probierte mit ihnen alles außer penetrativen Sex. Oralsex, in beide Richtungen, war ziemlich gut“, erzählt sie. Als sie dann aber zum ersten Mal versuchte, penetrativen Sex zu haben, spürte Tori, dass was nicht stimmte. Sie ging also zu ihrer Gynäkologin und bekam dort die Diagnose Vaginismus. Plötzlich ergab alles Sinn. Obwohl es zwar immer noch ihr Ziel ist, irgendwann mal schmerzfreien P-in-V-Sex zu haben, hat sie doch auch jetzt schon ein gutes Sexleben. „Die Diagnose half mir enorm, weil ich in sexuellen Situationen immer schon vorher wusste: Ich werde keinen penetrativen Sex haben, sondern mich auf anderes konzentrieren“, sagt sie.
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Um eine erfolgreiche Behandlung zu ermöglichen, ist es für Betroffene unheimlich wichtig, sich von der Vorstellung zu lösen, Penetration sei die einzige Form von „echtem“ Sex. „Dieses Märchen akzeptieren wir unterbewusst einfach“, meint Pickard. Wer von Vaginismus betroffen ist, „ist dadurch nicht weniger wert – weder als Partner:in, noch als sexueller Mensch“, betont sie.
Mery sieht das genauso. Wenn sie mit potenziellen Partner:innen über Sex spricht, stellt sie klar, dass sie sich zwar mit dem Eindringen nicht wohl fühlt, aber doch sehr sexuell aktiv ist. „Es gibt so viele Möglichkeiten, Spaß zu haben, und wenn du mit den Grenzen klarkommst, die ich ziehe, dann können wir uns gerne weiter kennenlernen“, sagt sie dann.
Beim Sex spielt Gender außerdem keine Rolle. Jede Person kann mit jeder anderen Sex haben (sofern beide darauf Lust haben, natürlich). „Ich hatte schon mit Leuten aller Gender und Genitalien Sex. Penetration ist wirklich nicht das Wichtigste beim Sex“, meint die 29-jährige Sydney*. „Du kannst so viel mit den Fingern, der Zunge, und so weiter machen – Körper sind komisch, und Sex auch!“
„Sex bedeutet vermutlich, sich selbst und einen Partner bzw. eine Partnerin gleichzeitig zu befriedigen. Aber sogar diese Definition ist irgendwie sehr einschränkend. Sex muss nicht mit einem Orgasmus enden“, meint sie. Sydney hat eine Beckenbodenfehlfunktion und ist derzeit mit einem Mann mit Penis zusammen. Trotz ihrer Fehlfunktion haben die beiden ein gesundes, befriedigendes Sexleben. „Ich hatte auch schon penetrativen Sex mit ihm, und der ist total gut. Uns gefällt nicht-penetrativer Sex aber tatsächlich besser, weil er leichter und besser für uns beide ist“, erzählt sie.
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Weil über Vaginismus noch nicht so viel bekannt ist – ja, sogar unter Ärzt:innen –, nehmen Betroffene die Sache oft selbst in die Hand und machen darauf aufmerksam. Mery zum Beispiel hat Dilato gegründet, eine community-basierte Plattform für Betroffene von Vaginismus. „Wir haben gerade unseren ersten Gratis-Workshop veranstaltet, um unsere Lust und unsere Körper zu feiern“, sagt sie. „Solche Events haben vielen Betroffenen schon dabei geholfen, die mentalen und sexuellen Herausforderungen zu bewältigen, die damit einhergehen.“
Fleischacker wusste, dass irgendwas nicht stimmte, als sie sich für eine Routine-Untersuchung beim Gynäkologen betäuben lassen musste, um die Schmerzen zu ertragen. Deswegen hat sie Tight Lipped gegründet, eine Organisation für Menschen mit chronischen vulvovaginalen oder Beckenschmerzen, bei der auch Sydney Mitglied ist. Tight Lipped setzt sich dafür ein, Wissenslücken in der gynäkologischen Ausbildung in den USA rund um chronische vulvovaginale Schmerzen zu füllen. „Die meisten Gynäkolog:innen bekommen dazu überhaupt kein Wissen vermittelt, wenn sie es sich nicht selbst holen oder zufällig mit Fachärzt:innen zusammenarbeiten“, meint Fleischacker.
Die gute Nachricht ist, dass es sehr wohl Möglichkeiten gibt, die vaginismusbedingten Schmerzen zu erleichtern – wie Beckenbodenübungen, vaginale Dehner oder psychologische Therapien. „Das erfordert viel Zeit, Ehrgeiz und Entspannung. Wir arbeiten aber [bei der Behandlung] so lange gemeinsam daran, bis es mit der Penetration klappt“, erzählt Pickard. „In unserer Kultur schämen wir uns für vieles und machen uns selbst runter. Ich finde es also wichtig, die Leute dazu zu ermutigen, es mit der Heilung zu versuchen und sich daran zu erfreuen, um sich schließlich selbst zu akzeptieren.“
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Tori jedenfalls hat es geschafft, ihren Vaginismus zu akzeptieren. Sie arbeitet langsam und vorsichtig daran, irgendwann penetrativen Sex ohne Schmerzen zu haben. Aktuell verwendet sie Dehner-Werkzeuge, um die Dehnbarkeit ihrer Vagina nach und nach zu verbessern. „Mir geht es gut. Viele Leute leben damit. Ich bin sexuell aktiv und nenne das, was ich mache, Sex – und meiner Meinung nach ist das guter Sex“, sagt sie. „Der Vaginismus ist schwierig, aber selbst damit kannst du ein ganz normales Sexleben haben. Ich gehe heute Abend feiern und hoffe, danach auch mit jemandem zu schlafen, und mache mir keine Sorgen deswegen.“
Wir werden nur mehr über Vaginismus und andere Formen chronischer vulvovaginaler Schmerzen dazulernen können, wenn wir darüber sprechen und anfangen, sie zu normalisieren. „Das ist wie jedes andere gesundheitliche Problem“, meint Fleischacker. „Es muss nicht dramatischer dargestellt werden, als es ist.“
*Namen wurden von der Redaktion geändert.
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