„Du schläfst so ungefähr mit jedem“, knallt mir meine beste Freundin Jennifer an den Kopf. Wir sitzen mit einigen Leuten in unserem Wohnzimmer und einige von ihnen sehe ich heute zum ersten Mal. Irgendwie ist mein Sexleben in den letzten fünf Minuten zum Gesprächsthema geworden. Es ist eine ziemlich schlecht verschleierte Beleidigung, von der sie weiß, dass sie sie zurückbekommt. Aber sie ist betrunken und ihre normalerweise mir gegenüber sehr positive Einstellung ist der Wahrheit gewichen: Sie hält mich für eine Schlampe. Es ist nicht das erste Mal, dass jemand einen miesen Kommentar bezüglich meines sexuellen Appetits macht. Tatsächlich passiert das in regelmäßigen Abständen seit meiner Pubertät. Erst seit einigen Jahren gibt es anerkannte, feministische Vorbilder, die offen anprangern, dass Frauen, die regelmäßig mit verschiedenen Männern Sex haben, dafür verurteilt werden.
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Vor über zehn Jahren auf der Uni war ich noch die einzige Befürworterin des „Frauen, die wie Männer ficken“- Konzepts. Eine Freundin von mir hat mal für jede*n aus unserem Freundeskreis Cookies mit einer persönlichen Nachricht gebacken und auf meinem stand: „Ich schlaf, wann ich will, mit wem ich will.“ Und das ist auch bis heute so.
Ich habe einige großartige Erfahrungen gemacht: ein spontaner Dreier, ein Quickie auf dem Tisch meines Maklers und eine lustige Nacht mit einem Fußballtrainer, der wollte, dass ich ihm einen Finger in den Po stecke. Und ich habe es auch schon ungefähr überall getan: im Park während eines Regenschauers, in einer heißen Badewanne und im Büro.
Leider geht es den meisten Menschen jedoch so wie Jennifer: Zwar können sie über die teilweise skurrilen Details meines Sexlebens herzlich lachen, trotzdem können sie nicht anders, als mich gleichzeitig auch dafür zu verurteilen, entweder im Stillen oder auch ganz offen.
Interessanterweise tun Männer das noch viel mehr als Frauen. Zwar würden die meisten sich nicht trauen, mich mit irgendwelchen Schimpfwörtern zu betiteln, aber Statements wie: „Frauen, die mit vielen Männern Sex haben, sind keine zum Heiraten“ sind schon häufiger gefallen, als ich hätte zählen können. Oder sie glauben, dass es einfach wäre, mich flachzulegen. Weder das eine, noch das andere ist der Fall.
Ganz zu schweigen von all den männlichen Egos, die ich den letzten Jahren dadurch verletzt habe, dass ich ihnen erzählt habe, wie hoch die Anzahl der Menschen, mit denen ich geschlafen habe, eigentlich ist. Weil sie höher war als ihre eigene Anzahl an Sexpartner*innen.
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In den letzten Jahren scheint die Akzeptanz für Frauen mit einem aktiven Sexualleben gestiegen zu sein. Zum einen liegt das daran, dass „Female Pleasure“ mittlerweile zum Trendbegriff in der Popkultur geworden ist und durch Serien wie Sex and the City, Girls oder Sex Education in den Mainstream gespült wurde. Zum anderen liegt es sicherlich auch an den Dating-Apps, die es allen Geschlechtern einfacher machen, jemanden zu finden, mit dem oder der sie unverbindlich schlafen können, wenn sie Lust drauf haben.
Doch trotz all des Fortschritts fällt ungefähr jede*r, der ich davon erzähle, dass ich schon mit mehr als 100 Männern geschlafen haben, erstmal die Kinnlade runter. Die Leute scheinen automatisch zu denken, ich sei eine Art Nymphomanin oder dass ich Sex benutze, um eine Lücke in meinem Leben zu füllen. Es scheint unmöglich zu sein, dass ich weiblich und single bin und Freude an Sex habe.
Freundinnen, die in der gleichen Situation sind wie ich, erzählen das Gleiche. Die meisten von ihnen machen aus ihrem Sexleben ein Geheimnis oder lügen, wenn sie sagen sollen, wie hoch die Zahl ihrer Sexpartner*innen ist. Die Angst vor dem, was andere denken könnten, (insbesondere die Männer, die sie daten,) ist einfach zu hoch. Was, wenn die Männer Schluss machen, weil sie sie nach der Enthüllung für die falsche Frau an ihrer Seite halten? Ich kann das gut nachvollziehen. Zwar schäme ich mich nicht für meine sexuelle Vergangenheit – trotzdem erwische ich mich dabei, Zweifel an meinem Lebensstil zu haben oder zu glauben, ich sollte einfach den Mund halten. Zum Glück passiert das mit den Jahren aber immer seltener.
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Auch auf Dates ist das ein Thema. Das liegt daran, dass es mein Beruf ist, über Sex und Beziehungen zu schreiben. Männer, die meine Artikel lesen, wissen ziemlich schnell, was bei mir so los ist. Viele glauben, dass sie mich easy ins Bett kriegen oder dass ich den lieben langen Tag Sex hätte – schön wär’s. Einige Freunde nennen mich eine „Legende“, wobei das nicht unbedingt als Kompliment verstanden werden kann. Für sie bin ich „einer der Jungs“, was sie auch dazu veranlasst, mir zu sagen, ich soll doch mal mit einem ihrer Kumpels schlafen, weil der gerade so schlecht drauf ist. Nein, danke.
Gesellschaftlich sind wir im Jahre 2019 durchaus in der Lage, offen über Sex zu reden und darüber, dass Frauen mit ihrem Körper machen können, was sie für richtig halten. Aber ist diese Einstellung auch wirklich in den Köpfen angekommen? Oder tun wir nur so, als wären wir locker-easy, während wir sexuell aktive Frauen insgeheim immer noch verurteilen?
Obwohl wir in Sachen Geschlechtergleichheit einen riesigen Schritt nach vorne gemacht haben, herrscht immer noch dieses weibliche Idealbild, das eine Frau dazu prädestiniert, geliebt zu werden: zurückhaltend, ladylike und rein. Wenn eine Frau viel Sex hat, wird oft angenommen, dass sie weder sich selbst, noch die Menschen, mit denen sie schläft, wertschätzt. Ein für alle Mal: Das ist unglaublicher Bullshit.
Als ich jünger war, habe ich einige schlechte Entscheidungen getroffen. Ich habe mit Leuten geschlafen, die mich nicht respektvoll behandelt haben. Ich habe mich manchmal selbst als Schlampe wahrgenommen. Aber das ist das Schöne an Erfahrung: Du lernst mit der Zeit ein, zwei Dinge. Und ich meine nicht nur Sex-Tricks.
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Ich habe über die Jahre meinen Körper kennengelernt, weiß mittlerweile, was ich im Bett will und kann auch darüber sprechen. Außerdem habe ich realisiert, wo meine Grenzen liegen – sowohl körperlich als auch emotional. Heutzutage verlange ich von den Männern, mit denen ich schlafe, Respekt. Beispielsweise habe ich keinen Sex mit Männern, die nur meinen Körper wollen. Ich merke relativ schnell, ob mich jemand als Person wahrnimmt oder als Möglichkeit, Sex zu haben.
Das soll nicht heißen, dass ich es nicht genieße, Sex ohne weitere Bindungen zu haben, aber Humor und Intelligenz sind eben Persönlichkeitsmerkmale, die ich schätze. Ich muss auch auf dieser Ebene mit jemandem connecten können, um den Sex zu genießen. Für mich ist es wichtig, vor und nach dem Sex miteinander zu reden, und mit einem langweiligen, staubtrockenen Typen komme ich da nicht besonders weit.
Über die Jahre habe ich gelernt, Arschlöcher zu erkennen (die metaphorischen). Das sind diejenigen, die nur Sex wollen, wenn es in ihren Zeitplan passt, sich nur melden, wenn ihnen danach ist und mich den Rest der Zeit ignorieren. Nicht, dass ich nicht manchmal trotzdem auf diese Art von Typen reinfalle. Niemand ist perfekt.
Vor allem hat meine sexuelle Reise mir jedoch beigebracht, mich selbst zu lieben. Egal wie viel oder wenig Sex du hast, er ist nicht mit deinem Selbstwert verknüpft. Egal, ob du ein Mann, eine Frau, non-binary bist oder deine Queerness gar ganz anders definierst, mit noch niemandem oder schon mit 500 Menschen geschlafen hast: Wie viel sexuelle Erfahrung du hast, bestimmt nicht, wie viel Liebe du verdienst. Denn selbstverständlich verdienst du alle Liebe der Welt.
Der gesellschaftliche Wandel vollzieht sich nur langsam. Wenn du dich in einer Situation wiederfindest, in der jemand die Art und Weise, wie du dein Leben führst, verurteilt, solltest du dir eine Sache merken: Du hast keinerlei Verpflichtung, irgendwem Rechenschaft über deine persönlichen Entscheidungen abzulegen.
Behandle herablassende, frauenfeindliche Meinungen wie gebrauchte Kondome und werfe sie dorthin, wo sie hingehören: in den Mülleimer.
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