Triggerwarnung: In diesem Artikel geht es um Transphobie, Suizid, Selbstverletzung und sexuellen Missbrauch.
Der internationale Gedenktag gegen Transfeindlichkeit (International Trans Day of Remembrance) ist immer schwer für mich. An diesem Tag kommen wir zusammen, um die Erinnerung an all die trans Menschen zu ehren, die wir an Gewalttaten verloren haben. Und es kommt mir so vor, als würde die Liste der Leute, die ich selbst daran verliere, mit jedem Jahr länger. Darauf stehen immer mehr Freund:innen, mehr Partner:innen, mehr Verwandte – an die wir uns erinnern, die aber nicht mehr da sind.
In diesem Jahr allein habe ich drei Mitglieder meiner trans Familie verloren, inklusive der ersten Frau, der ich mich je geoutet habe. Wir waren damals beide 12. Wir flüsterten uns unsere Wahrheit im Dunkeln zu und kuschelten uns nebeneinander in unserem kleinen Zelt in unsere Schlafsäcke. Ein Geheimnis, das wir so leise aussprachen, dass es der Regen beinahe übertönte. Sie fasste ihr Geständnis zuerst in Worte und hielt meine Hand, als ich es ihr gleichtat. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich ohne sie je geoutet hätte.
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Der diesjährige Gedenktag (am 20. November) fiel mir schwerer als die meisten vorherigen, und das ging nicht nur mir so. Transphobische Gewalt und Transphobie sind rund um den Globus weit verbreitet und zum Teil sogar in transfeindlichen Gesetzesvorschlägen (oder Gesetzen) verankert, wie zum Beispiel in Australien oder den USA.
Es überraschte niemanden von uns, als der Tracker „Transrespect versus Transphobia Worldwide (TvT)“, der die Morde an trans Leuten weltweit festhält, 2021 zum „tödlichsten Jahr seit Beginn der Aufzeichnungen“ erklärte. Und darin werden nicht einmal diejenigen berücksichtigt, die wir an Suizid, unzureichende medizinische Versorgung, Armheit, Diskriminierung und die systematische gesellschaftliche Unterdrückung verloren haben.
Nichts davon ist überraschend. Jedes Mal, als ich dieses Jahr „den Anruf“ bekam, in dem ich von dem Tod einer weiteren Person in meinem trans Freundeskreis erfuhr, überkamen mich mehrere Gefühle gleichzeitig: Trauer, Hilflosigkeit, Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung. Überraschung gehörte jedoch nie dazu, und jedes Mal flüsterte mir eine kleine Stimme in meinem Kopf zu: Du bist die Nächste. Genau wie bei allen anderen würde man sich an mich erinnern, doch fort wäre ich trotzdem.
Dieses Jahr wurde ich 27 und erreichte damit meine späten Zwanziger; die große 30 rückt immer weiter in greifbare Nähe. In den Wochen vor meinem Geburtstag machte sich in mir große Trauer breit. Es fiel mir schwer, morgens überhaupt aus dem Bett zu kommen, mich mit Freund:innen zu treffen, manchmal sogar zu lachen. Wenn mich meine cis Freund:innen fragten, was los sei, tat ich das Ganze als „Quarter-Life Crisis“ ab und behauptete, ich fühlte mich richtungs- und ziellos. Die meisten meiner trans Freund:innen brauchten hingegen nicht mal nachzufragen; sie wussten auch so, was los war. Ich hatte Angst davor, bald zu sterben. Die Wahrheit ist, dass ich mich davor noch immer fürchte. Ich habe schon immer Angst davor gehabt, dass man mir irgendwann nur noch gedenken können wird, weil ich nicht mehr am Leben bin.
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Solange ich mich erinnern kann, kam mir die Vorstellung unmöglich vor, eines Tages 30 zu werden. Diese tiefe Trauer lässt sich nur schwer erklären – es ist eine Mischung aus Hoffnungslosigkeit und Furcht, die ich immer mit mir herumschleppe. Weil ich eine trans Frau of color bin, habe ich mit jedem meiner Lebensjahre mehr meiner Freund:innen verloren. Einer der Gründe dafür, dass du nicht viele alte trans Menschen siehst, die schon früh ihre Transition hatten, ist der, dass es die meisten von uns gar nicht so weit bringen. Wir werden nicht alt. Wir sind irgendwann nur noch eine Erinnerung.
Und das ist der Punkt: Ich will keine Erinnerung sein. Ich will nicht, dass man mir gedenkt. Ich will leben.
Das hört sich jetzt vielleicht ganz selbstverständlich an – aber ich möchte es trotzdem betonen, weil ein Großteil der Aufmerksamkeit und des Mitgefühls für trans Leben erst in deren Tod stattfindet.
Cis Menschen wissen, wie sie auf tote trans Menschen zu reagieren haben; einige aalen sich geradezu darin. Sie sind wütend. Sie empfinden Mitleid. Sie beklagen, dass nicht mehr unternommen wurde. Sie posten irgendwas zu Pronomen. Und sie spenden an LGBTQI+-Organisationen. Sie sprechen von unserem Mut, lassen dabei all unsere Ecken und Kanten aus und betonen, wie lebensfroh wir doch immer gewesen seien.
So froh über ein Leben, mit dessen Ausradierung sie kein Problem hatten.
Denn trans Tode entstehen nicht in einem Vakuum – das war nie der Fall. Die Warnsignale waren schon immer da.
Die Statistiken dazu sprechen eine eindeutige Sprache. Sie hallen in meinem Kopf wider, und ich trage die Narben ihrer Realität an meinem Körper. In einer kürzlichen australischen Umfrage unter trans Menschen gaben 63 Prozent der Befragten an, sich schon einmal selbst verletzt zu haben; ganze 43 Prozent hatten mindestens einen Suizidversuch hinter sich.
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In vielen Ländern dieser Welt wird uns der Zugang zu lebensrettender medizinischer Hilfe und dem Arbeitsmarkt verwehrt. In jedem Bereich des öffentlichen Lebens werden wir diskriminiert – von der Schule über das Krankenhaus, den Arbeitsplatz, den Supermarkt bis hin zur Toilette. Wir sind die Opfer und Überlebenden einer höheren Rate von Gewalt in Partnerschaften. Diese Liste ließe sich ewig fortsetzen, und nichts davon sind neue Erkenntnisse.
Trotzdem werden all diese Probleme, all unsere Erfahrungen immer wieder ausgelöscht – von denen, die sich mit trans Menschen nur wirklich wohlfühlen, wenn diese tot sind. Also sorgen sie dafür, dass wir stumm und unsichtbar bleiben, bis wir sterben.
Das geht von den Seiten aus, von denen du es erwarten würdest – wie von offen transphobischen und/oder rechtsextremen Leuten, die unsere Realität gern ausradieren und durch Karikaturen von Monstern und sexuellen Perverslingen ersetzen, oder von den Social-Media-Giganten, deren Algorithmen transphobischen Content fördern und trans Stimmen unterdrücken.
Doch kommt diese Diskriminierung auch von Seiten, mit denen du vielleicht nicht rechnest. Wie zum Beispiel von Gruppen für Frauenrechte, die in ihrem Kampf für Gender-Gerechtigkeit die Probleme von trans Frauen ignorieren; oder von cis-dominierten LGBTQI+-Organisationen, die das Wohlbefinden ihrer cis Mitglieder über die Sicherheitsbedürfnisse von trans Menschen stellen; oder von Journalist:innen, die immer und immer wieder versäumen, in ihren Beiträgen zu unseren Schwierigkeiten auch die trans Perspektive zu Wort kommen zu lassen.
Als Anfang des Jahres die öffentliche Empörung zu gegenderter Gewalt und sexuellem Missbrauch laut wurde, wurden trans Stimmen immer wieder in den Hintergrund gedrängt oder gar ganz mundtot gemacht. Unsere einzigartigen Erfahrungen und Bedürfnisse wurden wiederholt ignoriert, obwohl trans Menschen – insbesondere trans Frauen – zu den häufigsten Opfern sexueller Gewalt zählen. Diese Formen der Auslöschung sorgen dafür, dass wir uns sowohl auf nationaler als auch internationaler Ebene immer wieder in beschränkte, spezifische Rollen gezwängt sehen; entweder die des toten Opfers oder die der hilflosen Community, die „gerettet“ werden sollte. Keine dieser Rollen hilft uns tatsächlich dabei, am Leben zu bleiben.
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Wir können die Tode von trans Menschen nicht verhindern, wenn wir uns nicht mehr um die Leben von trans Menschen kümmern. Um unsere Erfahrungen und unsere Stimmen, unsere Wünsche und Bedürfnisse, unsere Hoffnungen und Träume.
Lass mich das ganz klar ausdrücken: Die Ignoranz gegenüber der trans Community ist Transphobie. Sie ist Gewalt, und sie bringt uns um.
Dem internationalen Gedenktag gegen Transfeindlichkeit geht die Trans Awareness Weekvoraus. Die unterschwellige Message beider Events ist klar: „Bitte erkennt uns an“ – und „bitte hört auf, uns zu töten“.
Insofern: Bitte hör auf, mir zu gedenken. Denk an mich, während ich noch lebe. Hör auf, mich auszublenden. Schenke meiner Realität Beachtung. Hör auf meine Stimme. Kämpf an meiner Seite, solange es noch etwas gibt, wofür sich das Kämpfen lohnt. Denn ich will nicht bloß ein weiteres trans Opfer sein, eine weitere Tragödie, die hätte verhindert werden können, die deine Wut und dein Mitleid erweckt.
Ich will nicht, dass die Leute irgendwann sagen, mein Leben hätte etwas bedeutet, nur weil du meinen Tod als den Auslöser dafür nutzen konntest, um endlich etwas zu unternehmen.
Denn mein Leben bedeutet jetzt schon etwas.
Wenn du selbst mal nicht mehr weiterweißt oder jemanden kennst, dem:der es so geht, hol dir bitte Hilfe – zum Beispiel bei der kostenlosen Hotline der TelefonSeelsorge (unter 0800/1110111 oder 0800/1110222), oder den Beratungsstellen für inter, trans, queer und nichtbinär lebende Menschen QUEER LEBEN oder TransInterQueer.
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