Neulich ging ich zusammen mit meiner Freundin zu einer Wohnungsbesichtigung, nannte uns ein Mann „widerlich“. Wir waren gerade Hand in Hand an ihm und der Frau, die neben ihm saß, vorbeigelaufen. Er hatte so lange gewartet, bis wir ein paar Meter weiter waren, sodass er es uns nicht ins Gesicht sagen musste. Einen Moment lang waren wir beide still. Dann machte ich einen Witz darüber, dass der Pride-Monat ja vorbei ist und einige Männer angestauten Hass in sich zu tragen scheinen, den sie jetzt rauslassen müssen. Ein paar Minuten später machte meine Freundin den gleichen Witz – entweder, weil sie mich nicht gehört hatte oder weil sie es schon wieder vergessen hatte. Wir gingen um eine Ecke und hörten auf, Händchen zu halten. Sie meinte, dass ich zu groß wäre, aber ich war in den letzten fünf Minuten wohl kaum fünf Zentimeter gewachsen.
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Wir schauten uns die Wohnung an, die leider nicht ganz zu uns passte, und gingen wieder nach Hause. Ich machte uns etwas zu essen und wir schauten eine Serie. Wir hatten es vergessen und machten weiter, als wäre nichts gewesen.
Am nächsten Tag las ich in diesem Artikel der BBC folgenden Satz und fing an zu weinen: „Zwei Drittel aller LGBTQ-Menschen haben Angst, in der Öffentlichkeit Händchen zu halten“.
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Ich möchte doch einfach nur die Hand meiner Freundin in der Öffentlichkeit halten können – so, wie es alle anderen auch tun.
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Wir stecken so viel zurück, weil wir keine Szene machen wollen. Ich schlucke es herunter und lenke mich ab, bis ich es vergessen habe, weil doch eigentlich alles gut ist für Frauen wie mich! Ich lebe in London, beschreibe mich als femme und werde von meiner Familie und meinen Freund*innen akzeptiert und geliebt, so wie ich bin. Wenn ich allein unterwegs bin, vermutet kaum jemand, dass ich lesbisch bin. Was die Sichtbarkeit angeht, finde ich das frustrierend, auf der anderen Seite ist es wie eine Schutzhülle, die mich beschützt. Also denke ich, dass alles okay ist. Aber wenn ich einmal an der Oberfläche kratze und mir klar wird, dass eigentlich nichts so richtig „okay“ ist, breche ich in Tränen aus. Oder Zorn. Ohnmächtige Wut.
Während des diesjährigen Pride-Monats wurde viel über Sichtbarkeit gesprochen und was das heutzutage bedeutet. Darüber, dass es essentiell ist. Wir sollten nicht dafür kämpfen müssen, Teil des Stadtbilds zu sein, denn das sind wir längst. Was wir brauchen, ist Unterstützung – für die Menschen der LGBTQ-Community, die am meisten ausgegrenzt werden. Für trans* und nichtbinäre Menschen, die jeden Tag Gewalt ausgesetzt sind, wenn sie zur Toilette müssen. Für alle, die an psychischen Problemen leiden. Für die People of color der LGBTQ-Community, die in ihren eigenen Communitys täglich mit Rassismus konfrontiert werden. Das sind konkrete, dringende Probleme, die wir angehen müssen und in deren Licht das Thema Sichtbarkeit klein, fast schon trivial erscheint.
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Sich in der Öffentlichkeit als Teil der LGBTQ-Community zu zeigen, ist immer noch gefährlich. Es ist ja nett, dass Modelabels einen Regenbogen in ihr Logo einbauen oder Wortspiele mit ihrem Markennamen (Hi DeLOVEroo) machen. Aber das hilft mir wenig, wenn ich mich immer noch nicht traue mit meiner Freundin, mit der ich seit fünf Jahren zusammen bin, Hand in Hand spazieren zu gehen. Wir könnten ja jemandem begegnen, die*der glaubt, dass es immer noch gesellschaftlich akzeptabel ist, uns zu hassen. Einer Person, die den Fakt, dass wir anders sind als sie, als Rechtfertigung für Hass und Gewalt sieht und ihre Macht ausübt. Während sich heterosexuelle Paare jederzeit und überall ihre Zuneigung zeigen können, sind öffentliche Liebesbekundungen in meiner Welt leider nicht gern gesehen.
Die veröffentlichte Statistik schockiert mich nicht. Ich glaube nicht, dass sie irgendjemanden aus der LGBTQ-Community schockiert, den ich kenne. Natürlich macht jeder unterschiedliche Erfahrungen im Leben, aber eine machen wir alle: Jeder LGBTQ-Mensch trifft in der Öffentlichkeit immer wieder Personen, die einen hassen und das auch sagen oder sogar mit Gewalt zeigen. Die Konsequenz eines solchen Status Quo sollte nicht sein, dass sich zwei Drittel der Community verstecken, sondern dass die Frau, die gestern neben dem Mann saß, ihm die Stirn bietet. Ich will, das heterosexuelle Menschen, die sich online als Verbündete bezeichnen, versuchen dafür zu sorgen, dass solche Vorkommnisse gar nicht erst passieren. Und wenn doch, sollen sie uns danach unterstützen. Heterosexuelle Menschen überrascht die Studie vielleicht. Und selbst wenn nicht, sollte es nicht nötig sein, dass wir ständig von Belästigung berichten müssen, nur weil man uns sonst nicht glaubt. Ich sollte meine Ängste und meinen Ärger nicht herunterschlucken müssen, nur um den Tag zu überstehen. Ich möchte doch einfach nur die Hand meiner Freundin in der Öffentlichkeit halten können – so, wie es alle anderen auch tun. Es ist noch ein langer Weg, bis wir uns alle überall sicher fühlen.
Die Situation in Deutschland
Während es in Großbritannien durch den „LGBTAction Plan” wenigstens etwas Bewegung gibt, passiert in Deutschland aktuell nicht viel – abgesehen von der Rehabilitierung verurteilter Homosexueller, was aber auch überfällig war. Dass der Nationale Aktionsplan gegen Homophobie von 2013 nur wenig verändert hat, zeigt beispielsweise das Buch „Coming-out – und dann…?!”, in dem eine bundesweite Onlinebefragung von 5.000 queeren Menschen zwischen 14 und 27 Jahren aus dem Jahr 2017 ausgewertet wird. Das Ergebnis: Zwar hat in den letzten Jahren die Akzeptanz zugenommen, aber es werden immer noch mehr als 80 Prozent (!) diskriminiert.
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