Es gibt Regeln, heißt es. Außer in der Liebe und im Krieg. Das scheint gesetztes Faktum zu sein, hinterfragt man dies jedoch, kommen Fragen auf.
Es gibt sie ja doch, die Regeln im Krieg und die in der Liebe. Krieg, und sei es die kleinste Form davon – ein simpler Streit – unterliegt, zumindest moralisch gesehen, Regeln und einem scheinbar unerschütterlichen Ehrenkodex. Der fängt an bei „es endet, wenn einer am Boden liegt“ und hört auf bei „wer sich ergibt, den erwartet ein fairer Prozess“. Auch im großen Ganzen der Liebe, derer, die uns tagtäglich begleitet, uns am Leben hält, uns lachen, weinen, schreien und juchzen lässt, gibt es moralische Regeln. Solche, die einem die Gesellschaft, aber eben auch jeder einzelne sich selbst, auferlegt. Angefangen von „man ist ehrlich und treu“ über „wer liebt, verzeiht“ bis hin zu „was man wirklich liebt, lässt man frei“.
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Wieso also die Annahme in eben diesen beiden Bereichen gäbe es keine Regeln? Ganz einfach: Macht und Emotionen lassen einen genau diese moralischen Grundsätze vergessen. Wer im Krieg plötzlich auf der Seite der Macht steht, vergisst allzu oft die Gesetze der Menschlichkeit, lässt Fairness und die Regeln einer gesunden Moral außen vor und verwandelt sich in ein unaufhaltbares Monster.
In der Liebe verhält es sich wohl ähnlich – so traurig es ist. Man verletzt, erhebt sich über den anderen, spielt im schlechtesten Fall mit den Gefühlen anderer, klammert sich fest, schreit, weint, erpresst und betrügt. Es ist, als setze mit wachsender Emotion das Hirn aus, als wäre der erhobene Zeigefinger der Tugend plötzlich nur noch schemenhaft zu erkennen und als wachse das eigene Bedürfnis, der eigene Zustand und die Zuneigung zu sich selbst langsam, aber sicher, in unbegrenztem Maße über das der geliebten Person hinaus. Liebe, heißt es, macht blind. Doch nicht nur für die Fehler, Macken und die Imperfektion des Gegenübers, auch für die eigenen Abgründe. Wer einmal verletzt hat, kennt das Gefühl der Überlegenheit, das, der Stärkere zu sein, mit Glück der, dem es ein kleines bisschen besser geht in einer schier unerträglichen Situation. Wer jemanden verletzt hat, den er wirklich liebt, kennt vor allem eins: Das ewige Gefühl der Schuld, der nicht enden wollende Schmerz, das Gesagte oder Getane nicht mehr rückgängig machen zu können, und eventuell auch die pulsierende Reue, einen Fehler gemacht zu haben. Auch wenn vom Gegenüber kein Verzeihen zu erwarten ist, keine Vergebung in Aussicht und auch kein minimales emotionales Zugeständnis zu entdecken ist; es ist wichtig, dem anderen seinen Fehler einzugestehen. Selbst wenn dies den anderen Genugtuung verspüren lässt, im schlechtesten Fall Spott oder Häme. Es ist wichtig, eine Entschuldigung loszuwerden, sich wieder im Spiegel anblicken zu können, mit sich ins Reine zu kommen. Nicht nur, damit man irgendwann, wenn ein einschneidendes Erlebnis das Leben durcheinander wirbelt oder man gar am Ende seines Lebens steht, weiß, man hat sich alles von der Seele gesprochen, sondern auch, weil es dem Gegenüber Respekt zollt. Weil es zeigt, ich habe menschliche Größe, ich stehe zu meinen Fehlern, du bist mir nicht egal – und das, was ich dir an angetan habe, war nicht richtig oder es gab keine andere Lösung für meine damalige Situation.
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Das Problem in der Liebe ist, dass Menschen sich tendenziell schnell dazu hinreißen lassen, Entschuldigungen anzunehmen. Zu sagen hey, ich verzeihe dir. Aber Verzeihen ist nicht gleich Vergeben und selbst Vergeben ist nicht gleich Vergessen. Jemandem wirklich zu vergeben, heißt, einen Haken hinter das betreffende Thema zu machen. Sich soweit ausgesprochen haben, dass es egal ist, gleichgültig, einen nicht mehr maßgeblich beeinflusst, verletzt oder trifft. Das man sagen kann: Das war so, ich habe vielleicht nicht verstanden, wieso du mir das angetan hast, aber ich kann nachvollziehen wie es dazu gekommen ist. Wir fangen bei null an. Das spielt keine Rolle mehr zwischen uns. Alles andere bewirkt Vorwürfe beim nächstbesten Streit, ein durchgehendes Gefühl der Unterlegenheit, verletzte Gefühle und Narben, die nicht heilen; weil man meint, man habe eine Entschuldigung angenommen und müsse nun auch über alles hinweg sehen.
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Wenn die Verletzung so groß ist, dass sie einen Menschen maßgeblich verändert, erfordert ein Vergeben mehrere Faktoren
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Wenn die Verletzung so groß ist, dass sie einen Menschen maßgeblich verändert, erfordert ein Vergeben mehrere Faktoren: In erster Instanz eine aufrichtige Entschuldigung und die Bereitschaft Fragen zu beantworten, das Thema aufzuarbeiten, Vertrauen wieder aufzubauen. Außerdem vom Verzeihenden die Fähigkeit nach diesem Aufarbeiten das große Ganze großes Ganzes sein zu lassen, und zu akzeptieren, das war so und es gehört zu unserer Geschichte, aber mehr eben auch nicht. Es ist Vergangenheit.
Das Prinzip des Vergessens ist meiner Ansicht in dem Fall eher eine Farce als ein Fakt. Kaum jemand vergisst tiefe emotionale Verletzungen dieser Art, egal ob verziehen und vergeben. Wenn etwas wirklich vergeben ist, mag es sein, das Erinnerungen an Einzelheiten dieser Zeit verschwimmen und sich vermischen, ein komplettes Vergessen ist meiner Ansicht nach jedoch nicht möglich: Der Mensch zehrt von Erfahrungen, auch schlechten wie diesen. Und wird nur durch gute und schlechte Erlebnisse zu dem Individuum, dass er eben ist.
Es ist hart sich zu entschuldigen, es ist schwer Fehler einzusehen und es erfordert viel menschliche Größe auf jemanden zuzugehen, den man zuvor – vielleicht sogar absichtlich – verletzt hat. Doch nur wer all diese Kraft aufbringt, kennt das süße Gefühl der Erleichterung, weiß wie es sich anfühlt, wenn einem wirklich vergeben wird und kann nachempfinden, wieso eine Entschuldigung so elementar ist.
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