Ich traf ihn bei einem Gig in der Nähe. Er stolzierte arrogant herum und vermittelte den Eindruck, zu cool für all das zu sein – als ob man sich glücklich schätzen müsste, ihn kennen lernen zu dürfen. Zwischen Auftritten las er im Raucherbereich Gedichte vor; was für ein Klischee. Er war ein Dichter, ein Musiker, ein Künstler mit gequälter Seele. Seine dunkelblonden Locken fielen ihm ins Gesicht. Wir tauschten Nettigkeiten aus und verbrachten den Rest des Events miteinander. Diese Nacht war der Beginn der turbulentesten und toxischsten sieben Monate meines Lebens.
Wir hatten sofort einen Draht zueinander – genau das, was ich mir gewünscht hatte. Unsere Beziehung entwickelte sich im Eiltempo, doch zerbrach ich mir darüber nicht den Kopf. Warum auch? Immerhin machte die Person, die ich kennen gelernt hatte, mir ständig Komplimente und vermittelte mir das Gefühl, ich sei die Einzige für ihn. Während unseres ersten gemeinsamen Monats schrieb er mir per SMS, dass er mich vermisse – und das nur eine Stunde nach dem Abschied. Er sagte mir, er habe sich noch so sehr nie mit jemandem verbunden gefühlt wie mit mir und schmeichelte mir auf übertriebene Weise.
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Wir verbrachten fast jede Sekunde zusammen. Er ermutigte mich oft dazu, mir einen Tag freizunehmen und stattdessen bei ihm zu bleiben. Er wollte mich ganz für sich allein und isolierte mich von meinen Freunden. Ich stellte dieses Verhalten nie infrage, da ich mich dank ihm so fühlte, als sei ich etwas Besonderes. Dann, eines Abends, etwa zwei Monate nach Beginn unserer Beziehung, gestand er mir etwas, das den restlichen Verlauf unserer Beziehung veränderte: Er sagte mir, er trauere um seine Ex-Freundin; sie habe Selbstmord begangen. Das traf einen Nerv bei mir, da ich damals selbst mit psychischen Problemen und Selbstmordgedanken zu kämpfen hatte. Er bat um meine Hilfe und ich dachte, das sei meine Aufgabe.
Nicht lange nach seinem Geständnis veränderte sich sein Verhalten. Er begann, Bemerkungen sexueller Natur über andere Frauen zu machen. Wenn ich ihn damit konfrontierte, demütigte er mich und stellte mich als „verrückt“ oder „übertrieben eifersüchtig“ dar. Schließlich ist es immer einfacher, Partner:innen mit psychischen Problemen die Schuld in die Schuhe zu schieben, nicht wahr? Er fing an, sich über meine Outfits oder Selfies, die ich auf Instagram postete, lustig zu machen. Er distanzierte sich emotional. Seine übertriebenen Komplimente und sein Lob blieben jetzt aus. Ich erkannte ihn gar nicht mehr wieder. Weil ich ihn aber liebte, hielt ich an den guten Erinnerungen zu Beginn unserer Beziehung fest. Seine Gefühle hatten sich doch sicherlich seit damals nicht verändert, oder?
Etwa zur gleichen Zeit entdeckte ich Blutflecken auf seiner Bettwäsche. Er erklärte, das habe mit einer Frau zu tun, mit der er vor mir zusammen gewesen war. Er meinte, diese Flecken seien schon immer da gewesen. Ich war mir aber sicher, dass ich sie noch nie zuvor gesehen hatte. Er weigerte sich, sein Bettlaken zu wechseln, bis ich es letztendlich für ihn erledigte. Als ob das nicht schon seltsam genug gewesen wäre, fing er auch noch an, sich Videos von Menschen anzusehen, die versehentlich von Gebäuden stürzten. Er fand sie urkomisch. Ich wünschte, das alles hätte Alarmglocken in meinem Kopf ausgelöst. Aber ich versuchte mich in ihn hineinzuversetzen und zu verstehen, wie schwierig es sein musste, jemanden in so jungem Alter zu verlieren. Er ließ mich in dem Glauben, ich könnte ihm dabei helfen, wieder zu lieben. Also gab ich die Hoffnung nicht auf und ignorierte alle Warnsignale.
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Etwa fünf Monate nach Beginn unserer Beziehung stattete ich ihm einen Besuch ab, da ich ein paar Tage lang nichts von ihm gehört hatte. Ich erwischte ihn dabei, wie er eine Frau aus seiner Wohnung hinausbegleitete. Er behauptete, zwischen ihnen sei nichts passiert, aber ich hatte da so meine Zweifel. Ich wollte mehr über seine verstorbene Ex-Freundin erfahren. Deshalb suchte ich auf Facebook nach ihr und fand ein aktuelles Profil, das genau ihrem Namen und ihrer Beschreibung entsprach – und doch lebte die Frau offenbar noch. Ich war hin- und hergerissen: Wie konnte er bei einem so ernsten Thema lügen? Ich brach jeglichen Kontakt zu ihm ab.
Daraufhin erhielt ich Anrufe mit unterdrückten Rufnummern von ihm, manchmal bis zu 20-mal am Tag. Er tauchte unangekündigt bei mir zu Hause auf. Ich ignorierte ihn, bis ich eines Tages klein beigab und ihm verzieh. Zwei Wochen später betrog er mich wieder. Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Ich war untröstlich und schaffte es nicht, das alles zu verarbeiten. Ich schickte seiner Schwester eine Nachricht. Ich teilte ihr mit, dass er sich in einem instabilen psychischen Zustand befände und offensichtlich immer noch mit dem Tod seiner Ex-Freundin zu kämpfen habe. Ich erzählte ihm davon. Seine Reaktion darauf war: „Ich kann nicht glauben, dass du wirklich dachtest, sie sei tot. 'Tot' meinte ich hier als Metapher, also 'tot für mich'. Wie konntest du das falsch verstehen?“
Wie dumm von mir, Selbstmord nicht als „Metapher“ erkannt zu haben.
Nach diesem Vorfall verzerrte sich mein Realitätssinn. Ich begann, jeden Aspekt meines Lebens infrage zu stellen. Vielleicht hatte ich ihn ja tatsächlich falsch verstanden – oder doch nicht? War ich dabei, meinen Verstand zu verlieren?
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Ich sprach mit Freund:innen darüber. Sie bestätigten, dass er bezüglich des Todes seiner Ex-Freundin gelogen hatte. Damit war das Thema für mich erledigt. Trotzdem zweifle ich immer noch an mir und muss mich stets daran erinnern, dass ich mich nicht verhört oder etwas missverstanden habe. Das alles war ein klarer Fall von Gaslighting.
Expert:innen zufolge handelt es sich bei Gaslighting um eine Form von psychischer Gewalt und Missbrauch, mit der Opfer verunsichert, manipuliert und gezielt desorientiert werden, um ihr Realitätsbewusstsein anzugreifen. Gaslighting ist also eine Manipulationstechnik, mit der man Partner:innen destabilisieren und verunsichern kann.
Er hat mich dazu gebracht, meine eigenen Erinnerungen anzuzweifeln. Er kritisierte Dinge an mir, die ihm zu Beginn angeblich gefallen hatten. Er untergrub meine Gedanken und Meinung. Er demütigte mich vor anderen. Er kontrollierte, wie ich meine Zeit verbrachte. Er gab mir nie die Möglichkeit, meine Wunden zu heilen und mein Leben normal fortzuführen. Erst nachdem ich in andere Städte gezogen war und ihn in allen sozialen Netzwerken blockiert hatte, erkannte ich den missbräuchlichen Charakter dieser Beziehung. Ich habe aber einen Ausweg gefunden. Das war nicht einfach, aber ich habe es geschafft.
Falls du in einer missbräuchlichen Beziehung bist und Hilfe suchst, kontaktiere Hilfe für Opfer von Narzissten. Sie bieten Opfern von Gaslighting Unterstützung.
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