Ich weiß nicht mehr, wann ich mich zum ersten Mal nicht liebenswert fühlte. Das ist so, als müsste ich versuchen, mich daran zu erinnern, wann ich das erste Mal den Unterschied zwischen richtig und falsch verstehen oder die Wochentage aufsagen konnte. Alles, was ich weiß, ist, dass ich keine Erinnerung daran habe, jemals das Bedürfnis verspürt zu haben, zu hinterfragen, warum ich mich nicht liebe. Das änderte sich aber schlagartig, als meine innere Welt eines Tages zusammenbrach und ich plötzlich gezwungen war, Gedanken und Überzeugungen, an denen ich jahrelang festgehalten hatte, genau unter die Lupe zu nehmen.
Mithilfe einer Therapie versuchte ich nachzuvollziehen, warum ich an diesem kalten, nassen Wintermorgen ohne Mantel und mit noch seifigen Haaren meine Wohnung fluchtartig verlassen und damit die Tür zu einer Beziehung geschlossen hatte. Eigentlich hatte ich doch gedacht – oder mir erhofft–, sie würde für immer halten. Wie macht man sich aber einen Reim auf das Unbegreifliche? Warum hatte ich die letzten zwei Jahre damit verbracht, jede einzelne Person um mich herum anzulügen und vorzuschwindeln, dass es mir gut gehe?
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Als mir klar wurde, dass mein Leben auf dem Spiel stand, lief ich davon. Alle anderen Möglichkeiten hatte ich zu diesem Zeitpunkt bereits ausgeschöpft. Zu fliehen, war nicht wirklich eine Entscheidung. Dabei handelte es sich viel eher um einen Instinkt, dem ich folgte. Ich bin davon überzeugt, dass ich nie wieder den Mut gefunden hätte, zu entkommen, wenn ich auch nur einen Tag länger in diesem toxischen Umfeld verbracht hätte.
Leute fragen mich oft, warum ich so lange in einer Beziehung blieb, die offensichtlich missbräuchlich war. Die Wahrheit ist, dass ich mir nicht bewusst war, dass ich emotionalem Missbrauch ausgesetzt war. Wenn man sich bindet und davon überzeugt ist, dass man nicht liebenswert ist, neigt man dazu zu denken, dass man alles verdient, was einem so widerfährt. Irgendwann fühlt sich diese Form von Gewalt normal an und wird zum Alltag. Warum sollte ich respektvoll oder auf freundliche Weise behandelt werden, wenn ich es doch eindeutig nicht verdient habe? Ich war es doch offensichtlich nicht wert, geliebt zu werden. Ich schätze, meine Erfahrung kann mit einem Impostor-Syndrom verglichen werden: Ich hatte jemanden dazu gebracht, mich zu lieben, und hatte Angst, er würde herausfinden, das ich seiner Liebe gar nicht würdig war. Aus diesem Grund sah ich eine Trennung als eine Wahl zwischen ewigem Alleinsein oder geistigem Unwohlsein. „Du wirst nie einen anderen finden, der dich liebt“, waren die letzten Worte, die mein Ex mir höhnisch hinterherschrie, als ich die Tür für immer zufallen ließ. „Du wirst allein enden.“
Ein Teil davon erwies sich als wahr: Ich war tatsächlich allein – zumindest für ein paar Jahre. Ich brauchte aber jede einzelne Sekunde dieser Zeit, um zu verarbeiten, was passiert war, zu verstehen, welche Rolle ich dabei gespielt hatte, und um – hoffentlich – auf eine positivere Zukunft hinarbeiten zu können. Laut Paartherapeutin Ammanda Major ist es nicht möglich, festzulegen, wie lange es dauern kann, sich von einer missbräuchlichen Beziehung zu erholen. Dieser Prozess ist für jede einzelne Person anders. „Für manche Menschen kann es Teil des Heilungsprozesses sein, eine neue Beziehung einzugehen“, erklärt sie. „Für andere ist es wichtig, sich Zeit zu nehmen, zuerst wieder alleine auf die Beine zu kommen.“
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Ich verliebte mich in Menschen, die meine Liebe nicht verdienten. Außerdem versuchte ich, die schwierige Aufgabe, zu lernen, mich selbst zu lieben, zu umgehen, indem ich das Verlangen oder die Bewunderung einer anderen Person als Ersatz für meinen Mangel an Selbstliebe benutzte.
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Während des ersten Jahres nach meiner Flucht war Daten für mich absolut vom Tisch. Wie sollte ich jemals jemandem wieder vertrauen können? „Was wir verstehen müssen, ist, dass die Schuld immer beim Täter liegt“, erklärt Ammanda, „aber es kann einige Zeit dauern, bis Überlebende diese Tatsache akzeptieren können.“ Ihre Logik ist verzerrt, da Opfer sich daran gewöhnt haben, für alles verantwortlich gemacht zu werden oder sich selbst die Schuld für alles zu geben, was schief läuft. Als die Trennung noch frisch war, empfand ich die Vorstellung, mit einer neuen Person auszugehen, als undenkbar. Was hatte ich doch in meiner letzten Beziehung angerichtet; sicherlich würde es wieder dazu kommen.
Als ich dann irgendwann aber doch wieder damit begann, mich zu verabreden, fühlte ich mich, als würde mir eine Hautschicht fehlen. Alles fühlte sich intensiver an: die Höhen und Tiefen, das Hin und Her. Ich verliebte mich in Menschen, die meine Liebe nicht verdienten. Außerdem versuchte ich, die schwierige Aufgabe, zu lernen, mich selbst zu lieben, zu umgehen, indem ich das Verlangen oder die Bewunderung einer anderen Person als Ersatz für meinen Mangel an Selbstliebe benutzte. Das lief aber nie gut. Wenn die Dinge dann irgendwann unweigerlich schief gingen, zog ich mich in mein Schneckenhaus zurück und schwor mir, nie wieder zu daten.
Rückblickend erkenne ich, dass das alles ein Teil meines Verarbeitungsprozesses war. Es dauerte lange, bis ich akzeptieren konnte, dass ich missbraucht worden war. Das hat zum Teil damit zu tun, dass es mir sehr schwerfiel, mich mit der Opferrolle zu identifizieren. Hunderte Therapiestunden und panische nächtliche Telefonate mit meinen (sehr geduldigen) Freund:innen und meiner Familie waren notwendig, bevor ich überhaupt dazu bereit war, anzuerkennen, dass meine Schuldgefühle genauso Teil des Missbrauchs waren wie die direkteren Angriffe auf mich und die Versuche, mich von denjenigen Menschen in meinem Leben fernzuhalten, die sich wirklich um mich sorgten.
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Kurz darauf machte ich mich im Internet auf die Suche, um alles zum Thema Missbrauch in Erfahrung zu bringen. Unaufhörlich suchte ich nach Erfahrungsberichten von Opfern und Überlebenden. Es fing mit ein paar Artikeln hier und da an. Am Ende hatte ich fünf Bücher und jeden Link auf den ersten 100 Google-Seiten gelesen. Ich war zu einer Expertin auf diesem Gebiet geworden und begann bald, überall Missbrauch zu vermuten. Plötzlich schienen alle von Gaslighting und Love Bombing betroffen zu sein. Niemand setzte gesunde Grenzen. „Den Zusammenhang zu missbräuchlichem Verhalten zu verstehen, ermöglicht es Opfern, Vergangenes zu verarbeiten“, sagt Ammanda. „Es kann aber auch dazu führen, dass man aufgrund all dieser Informationen anderen Menschen weniger Vertrauen schenkt und sich ihnen gegenüber übertrieben vorsichtig gibt – das sind aber alles völlig normale Reaktionen.“ Nach all diesem Recherchieren kam es mir vor, als würde ich feststecken. Ich wollte mich um jeden Preis vor potenziellen Bedrohungen schützen. Schließlich wurde bei mir eine posttraumatische Zwangsstörung diagnostiziert. Die Diagnose half mir dabei, mehr Mitgefühl und Geduld für mich selbst zu entwickeln, was sich positiv auf meinen Heilungsprozess auswirkte.
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Darauf zu vertrauen, dass dein Leben anders aussehen kann, ist ein enormer Meilenstein auf dem Weg zur Besserung. Für viele ist dieser Moment ein Wendepunkt.
Ammanda Major, Relate
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In den Jahren nach meiner Flucht schwankte ich ständig zwischen Optimismus und Angst – immer ein Schritt nach vorne und dann wieder zwei nach hinten. Als ich anfing, mich wieder zu verabreden, fand ich mich oft in intensiven Affären wieder, die schnell wieder zu Ende gingen. Ich glaube, dass es sich dabei um eine Form von Selbstschutz handelte: Ich suchte mir Partner aus, die emotional nicht verfügbar waren, damit ich mich nicht verletzlich zeigen musste, wodurch ich sie sonst unbewusst mit unberechenbarem und intensivem Verhalten vertreiben würde. Ich machte aber auch ein paar positive Erfahrungen: Zum Beispiel gelang es mir, mich einer Person zu öffnen, die zwar unglaublich fürsorglich, aber einfach noch nicht bereit für etwas Ernstes war. Nichtsdestotrotz sind wir bis heute in Kontakt.
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Jahre danach, als die Pandemie ausbrach und ich allein zu Hause eingesperrt war, ging mir zum ersten Mal ein Licht auf: Alles, was ich dank meiner Therapie und Selbstfürsorge im Laufe meines Heilungsprozesses gelernt hatte, ergab auf einmal Sinn. Ich hatte gerade eine Affäre mit einem Mann beendet, der mich ebenfalls schlecht behandelt hatte und in vielerlei Hinsicht meinem Ex ähnelte. Plötzlich fiel bei mir der Groschen und ich dachte: Was mache ich eigentlich? Warum tue ich mir so etwas an? Das habe ich nicht verdient. Ich blockierte den Kerl und schwor mir, von nun an eine andere Platte aufzulegen. Es war nicht meine Schuld, dass ich missbraucht wurde. Ich verdiente es nicht, so mies behandelt zu werden –weder jetzt noch sonst irgendwann. Davon überzeugt zu sein – wirklich daran zu glauben –, half mir, neue Grenzen zu setzen und höhere Erwartungen zu entwickeln. Ich verspürte sogar wieder einen Schimmer von Hoffnung. „Darauf zu vertrauen, dass dein Leben anders aussehen kann, ist ein enormer Meilenstein auf dem Weg zur Besserung“, verrät Ammanda. „Für viele ist dieser Moment ein Wendepunkt.“
Kurz nach diesem erleuchtenden Erlebnis lernte ich meinen jetzigen Partner kennen. Vom ersten Tag an war alles anders, denn ich war anders: Ich fühlte mich liebenswert, hatte keine Angst mehr vorm Alleinsein und konnte meine Ängste loslassen und meinen eigenen Grenzen vertrauen. Ich wusste, dass ich zurechtkommen würde – egal, was auch zwischen uns passieren würde.
„Sich von einer missbräuchlichen Beziehung zu erholen, folgt keinem Prinzip. Dieser Prozess kann bei jeder Person anders aussehen“, erklärt Ammanda. „Was für eine Person funktioniert, funktioniert vielleicht nicht für eine andere. Was aber in jeden Fall notwendig ist, um das Vergangene verarbeiten zu können und zu heilen, sind professionelle Unterstützung, Rückhalt seitens der Menschen in deinem Umfeld und Zeit und Raum, um die emotionalen, sexuellen, körperlichen und (manchmal) auch finanziell Auswirkungen zu begreifen, die du durch den Missbrauch erlitten hast.“
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„Für manche Menschen kann es heilend wirken, eine neue, gesündere Beziehung zu beginnen“, erklärt sie, und genau da befinde ich mich im Moment. Das Ganze ist definitiv nicht ohne Probleme verlaufen. Von Zeit zu Zeit fiel es mir schwer, die Fürsorge, das Mitgefühl und die Freundlichkeit meines Freundes zuzulassen, ohne Angst vor den unvermeidlichen Konsequenzen zu haben oder das Bedürfnis zu verspüren, mich für seine Zuneigung „revanchieren“ zu müssen. Seitdem wir uns kennengelernt haben, reden wir klar und offen über das, was in meiner missbräuchlichen Beziehung passierte. Er vermittelt mir jeden Tag das Gefühl, das ich es verdiene, geliebt zu werden. Das ist natürlich kein Ersatz für mein eigenes Selbstwertgefühl, aber es schadet sicherlich nicht, daran erinnert zu werden.
Versteh mich nicht falsch: So sehr ich ihn auch schätze, der Grund für diese einschneidende Veränderung/meine Weiterentwicklung und Heilung liegt an der harten Arbeit, die ich geleistet habe (mit der Unterstützung einiger unglaublicher Menschen natürlich). Ich zwicke mich immer noch jeden einzelnen Tag, weil ich immer noch nicht fassen kann, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben total verliebt bin und keinen Funken Angst habe. Denn ich weiß jetzt, dass ich immer zu mir stehen werde – komme, was da wolle. Ich werde mich selbst nicht mehr im Stich lassen. Alles andere ist bloß das Tüpfelchen auf dem i: nicht notwendig, aber trotzdem schön.
Wenn du auf der Suche nach Beratung bist und Hilfe benötigst, kannst du dich an das Hilfetelefon wenden, welches ein bundesweites Beratungsangebot für Personen anbietet, die Gewalt erlebt haben oder noch erleben. Unter der Nummer 08000 116 016 und via Online-Beratung unterstützt diese Einrichtung Betroffene aller Nationalitäten, mit und ohne Behinderung – 365 Tage im Jahr, rund um die Uhr.