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Wie diese muslimischen Frauen ihre Sexualität zurückerobern

Orgasmus“ und „Islam“ sind zwei Wörter, die du für gewöhnlich nicht im selben Satz liest oder hörst. Ich selbst hätte nie gedacht, dass ich sie mal zusammen verwenden würde – und erst recht nicht, dass ich je den Mut aufbringen könnte, öffentlich über Sex zu schreiben. Das ist einfach kein Thema, über das du als Anhänger:in des Islams sprichst. Vor allem als Frau.
Demnach kann ich nicht anders, als erstaunt die Augenbrauen hochzuziehen, wann immer ich das O-Wort in sozialen Medien ganz locker von Muslimas verwendet sehe. @villageauntie schreibt zum Beispiel auf Instagram: „Mein Orgasmus ist nicht optional.“ @sexualhealthformuslims postet: „Der Orgasmus gehört zum Spektrum der sexuellen Lust, das Allah für unsere Körper erschaffen hat.“ Beide Accounts sind echte Schatztruhen voller Ratschläge, Tipps und Informationen für Muslim:innen – gegen Stigmata und für glaubensbasierte, offene Diskussionen rund um Sex.
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Eine Instagram-Umfrage unter 615 Muslim:innen ergab, dass nur neun Prozent von ihnen in ihrer Jugend im religiösen Umfeld irgendeine Form von Sexualkunde erfahren hatten. Die jemenitisch-britische Musikerin Noha Al-Maghafi, bekannt als Intibint, erinnert sich daran, wie sie im Jemen in der sechsten Klasse dazu aufgefordert wurde, die Seiten zur Fortpflanzung aus ihrem Biologie-Buch zu reißen. In der neunten Klasse gab ihre Bio-Lehrerin den Mädchen dann heimlich eine Stunde über Sex, weil einige der Schülerinnen kurz vor der Ehe standen. Für andere muslimische Frauen beschränkt sich die Sexualkunde hingegen vielleicht bloß auf ein paar zugeflüsterte Worte ihrer Mütter kurz vor der Hochzeitsnacht, die sie darauf hinweisen, nach dem Sex zu duschen, um wieder rein zu werden. Was davor passiert, müssen sich viele Frauen selbst aus dem zusammenreimen, was sie von anderen hören, in Zeitschriften lesen oder in Film und Fernsehen sehen.
Die Absichten dahinter, junge Muslimas vor der Sexualkunde zu bewahren, sind vielleicht gut gemeint – eine Erweiterung des Versuchs, ihre Keuschheit und Naivität zu bewahren –, doch kann diese Art der Ignoranz ernste Konsequenzen haben. Fehlendes Wissen und Bewusstsein rund um Sex kann zu einer Angst vor Intimität, unausgeglichenen sexuellen Rollen, unangenehmem Sex und in extremen Fällen sogar ehelicher Vergewaltigung führen. Zum Glück setzen sich immer mehr Menschen dafür ein, die sexuelle Bildung unter Muslim:innen zu entmystifizieren – insbesondere in den sozialen Netzwerken, wo viele muslimische Frauen ganz offen über Sex sprechen. Dabei behandeln sie Themen wie sexuelles Einverständnis, Fruchtbarkeit, Ejakulation und Orgasmen und betonen die Gleichberechtigung aller Gender beim Sex, ohne dabei auf den religiösen Kontext und die damit verbundene Sprache zu verzichten.
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Sameera Qureshi von @sexualhealthformuslims ist eine dieser Frauen. Sie ist Therapeutin und Pädagogin für sexuelle Gesundheit und beruft sich bei ihren Lehren auf islamische Spiritualität. Vor einem Jahrzehnt half sie muslimischen Immigrant:innen dabei, sich in Kanada einzuleben. Als ihr klar wurde, dass sexuelle Gesundheit in islamischen Schulen kein Thema war, half sie dabei, einen „islamisch orientierten Lehrplan“ für Sexualkunde zu entwickeln. „Ich dachte mir einfach: Wie kann es sein, dass wir den Islam dabei ganz außen vor lassen? Er gehört schließlich zu unserem Leben“, erklärt sie. Heute bietet Qureshi Beratungsgespräche an, gibt Kurse und teilt kostenlose Informationen auf ihrem Account. „Muslim:innen stehen einfach zu viele Hürden im Weg, um an dieses Wissen zu kommen. Was könnte dagegen besser helfen als Social Media und Onlinekurse? Eine geregelte Sexualkunde für Muslim:innen gibt es schließlich nicht. Das Wissen darüber ist nur sehr verstreut und muss selbst zusammengesetzt werden“, sagt sie.
Angelica Lindsay-Ali (bekannt unter ihrem Social-Media-Namen „Village Auntie“) ist eine amerikanische Intimitäts- und Beziehungsexpertin, die während eines Aufenthalts in Saudi-Arabien mit muslimischen Frauengruppen über Sex zu sprechen begann und heute in ihrem „Village Auntie Institute“ Kurse dazu anbietet. „Ich spreche gern über Spirituelles im sexuellen Kontext“, erklärt sie. „Meine Arbeit konzentriert sich auf Frauen. Ich interessiere mich dabei nicht wirklich für die männliche Perspektive, weil ich einfach glaube, dass wir hinsichtlich Sexualität und weiblicher Körper schon genug männliche Wahrnehmungen zu hören bekommen.“
Und das stimmt: Orthodoxe muslimische Einstellungen zum Sex wurden zum Großteil von Männern interpretiert und weitergereicht. Es ist daher fast schon revolutionär, Sexualkunde in muslimischen Communitys von muslimischen Frauen vorangetrieben zu sehen. Es sind aber nicht bloß Frauen, die sexuelles Bewusstsein und sexuelle Selbstbestimmung fördern wollen: Der britisch-muslimische Historiker Habeeb Akande arbeitet als Sexualpädagoge und hat bereits sieben Bücher geschrieben, darunter A Taste of Honey: Sexuality and Erotology in Islamzur Position der Sexualität im Islam. Um den International Female Orgasm Day am 8. August zu feiern, veranstaltete er ein Webinar für Männer zur weiblichen Lust. „Weibliche Sinnlichkeit liegt mir am Herzen, und ich möchte den ‚Gender Orgasm Gap‘ schließen“, sagt er. „Ich finde, jeder Mann sollte wissen, wie er einer Frau zum Höhepunkt verhelfen kann, bis sie wirklich befriedigt ist – und dass jede Frau ihren Körper verstehen und Befriedigung durch ihren Mann erwarten sollte.“
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Weil sie charismatisch und zugänglich wirken, stehen Lehrende wie Akande, Lindsay-Ali und Qureshi im starken Kontrast zur oft angstbasierten „religiösen“ Debatte rund um Sexualität, in der oft Worte wie „unrein“ und „haram“ („verboten“) verwendet werden, die einen Scham-Kreislauf befeuern. Das bisschen Information, das der Zensur entkommt, ist dann häufig patriarchalisch, betont die aktive Rolle des Mannes und Unterwürfigkeit der Frau. „Viele muslimische Gelehrte verstehen die sexuelle Reaktion falsch“, sagt Qureshi. „Sie sprechen oft von einem ‚sehr starken Sexualtrieb‘ der Männer. Leider wird das dann oft so gedeutet, dass Männer keine Kontrolle über ihr sexuelles Verlangen hätten – dass sie bei Erregung Sex bräuchten, und dass es die Rolle der Frau sei, das in der Ehe zu bedienen. Dadurch entsteht hinsichtlich der sexuellen Lust in der Ehe ein Ungleichgewicht.“
Trotzdem betonen viele Muslim:innen das im Koran ausgedrückte Gleichheitsprinzip, das Eheleute als „Gewänder“ füreinander darstellt. Akande erwähnt, dass der Prophet Mohammed in mehreren seiner Predigten Männer dazu aufrief, ihre Frauen gut zu behandeln – durch einen liebevollen Umgang, finanzielle Unterstützung, sexuelle Erfüllung und emotionale Sicherheit. „Leider wird vielen Frauen vermittelt, ihr Körper gehöre ihrem Vater oder Mann“, sagt er. „Einige glauben sogar fälschlicherweise, der Islam erlaube es einem Mann, sich seiner Frau aufzuzwingen, und dass ‚gute Frauen‘ niemals die sexuelle Initiative ergreifen sollten.“ Der Irrglaube, Sex sei nur für die Männer da, muss weg, findet Akanda; im Islam haben Frauen genauso das Anrecht auf sexuelle Lust wie Männer. „Wir müssen mit Mythen rund um männliches sexuelles Anrecht aufräumen. Manche Muslim:innen glauben irrtümlicherweise, in einer Ehe müsse es kein sexuelles Einverständnis geben“, ergänzt er und erklärt, dass diese Einstellungen einem kulturellen Verständnis, nicht aber islamischen Werten entsprechen. „Viele Leute verwechseln den Islam mit der Kultur, und islamische Lehren mit muslimischen Praktiken.“
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Als Akanda nach Ägypten reiste, um an der Al-Azhar-Universität in Kairo arabisches und islamisches Recht zu studieren, stieß er auf zahlreiche „Sex-Anleitungen“ islamischer Gelehrter, die viele Muslim:innen heute überraschen dürften. „Erotische Texte wie die Enzyklopädie der Lust von Jawami’ Al-Ladhdha und Der parfümierte Garten von Al-Rawd Al-Atir betonten die Bedürfnisse der Frauen und setzten weibliche romantische Erfüllung für eine schöne Ehebeziehung voraus“, erklärt er und ergänzt: „Sexuell selbstbestimmte Frauen gibt es im Islam schon lange, doch bleiben ihre Geschichten oft unerzählt.“
Diese unterdrückten Perspektiven ins Licht der Öffentlichkeit zu rücken, ist Teil der revolutionären Arbeit dieser muslimischen „Sexpert:innen“, zu deren wichtigsten Werkzeugen die sozialen Medien gehören. „Das ist eins meiner besten Community-Tools, weil ich dadurch Frauen erreiche, die an Orten leben, die ich vermutlich nie besuchen werde“, meint Lindsay-Ali. Muslim:innen können sich hilfesuchend an diese Pädagog:innen wenden und ihnen Fragen schicken, die sie ihren Eltern, Lehrer:innen oder Ehepartner:innen niemals stellen würden, und bekommen sie in Form leicht verständlicher Instagram-Posts beantwortet – wie Qureshis Post zu „Mythen über das Jungfernhäutchen“ und „Muslim:innen und Masturbation: ein ‚empfindliches‘ Thema“.
Weil ihre Herangehensweisen auf religiösem Glauben fußen, beziehen sich die Ratschläge meist auf ehelichen Sex. Akande bietet aber auch unverheirateten Muslim:innen Rat, die sich mit ihrer eigenen Lust schwertun, und empfiehlt ihnen beispielsweise eine Liste an Fragen, die sie potenziellen Ehepartner:innen zur sexuellen Kompatibilität stellen sollten. Qureshi glaubt, auch unverheiratete Muslim:innen könnten davon profitieren, ihr zu folgen. „Mir ist bewusst, dass viele Muslim:innen vor der Ehe Sex haben, dabei aber nicht immer vernünftig sind“, sagt sie. Daher fördert sie eine „schadensbegrenzende Herangehensweise“, um die gesundheitlichen und gesellschaftlichen Konsequenzen sexueller Handlungen zu reduzieren, ohne zwangsläufig komplett darauf zu verzichten. „Ich bin nicht hier, um dir zu sagen, woran du glauben sollst. Ich will die öffentliche Debatte erweitern und Perspektiven teilen, die du womöglich noch nicht kennst, weil Allah uns einen Intellekt geschenkt hat und wir letztlich für unsere Entscheidungen selbst verantwortlich sind“, sagt Qureshi.
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Weil sie ihre öffentlichen Plattformen nutzen, um darauf Gespräche zu führen, die ansonsten höchstens hinter verschlossenen Türen stattfinden, bekommen diese Content Creators aber auch viel Kritik aus konservativen Ecken. Lindsey-Ali zum Beispiel hat eine Handvoll Nachrichten von „Creeps“ in ihren DMs, die ihr schreiben, sie würde „in die Hölle kommen“, und Akande bekam schon zu hören, seine Arbeit sei „absolut unangebracht“. Dennoch sind die wachsenden Zahlen ihrer Kund:innen, Abonnent:innen, Leser:innen und Follower ein Beweis dafür, dass ihre Dienste sehr gefragt sind – und die Expert:innen hoffen darauf, dass das nur der Beginn einer gemeinsamen Rückkehr zur Offenheit rund um Sex im Islam ist. Die Pädagogin für weibliche Sexualität Dr. Shaakira Abdullah (@thehalalsexpert auf Instagram) richtet sich dazu an zukünftige Generationen von Muslim:innen,  indem sie Kurse zu „halal Sexgesprächen“ für Eltern anbietet, die offen mit ihren Kindern über Sex sprechen, sie dabei aber „mit Gott verbunden“ halten möchten.

Sexuell selbstbestimmte Frauen gibt es im Islam schon lange, doch bleiben ihre Geschichten oft unerzählt.

Habeeb Akande
Aus rein religiöser Sicht ist die Arbeit dieser Pädagog:innen wohl kaum radikal oder rebellisch. Sie wünschen sich, Muslim:innen würden zu ihren religiösen Grundlagen zurückkehren und lernen, religiöse Ethik und Werte von den patriarchalischen Kulturen zu lösen, die mit ihnen verschwommen sind. Qureshi erwähnt, dass der Islam als Religion in den letzten Jahrhunderten kolonialisiert wurde und viele Muslim:innen darauf mit sehr puristischen Interpretationen reagiert haben. „Lasst uns zu unserer Tradition zurückfinden, indem wir uns vor Augen halten, was es heißt, muslimisch zu sein. Ich glaube, wir finden die Lösung, wenn wir das Ganze auch auf innere Werte erweitern“, sagt sie. „Sexualkunde kommt vielen Menschen unwichtig vor. Wenn du dir aber mal unsere religiösen Schriften ansiehst, erkennst du: Das ist darin ein großes, heiliges Thema.“
Lindsay-Ali geht es genau um dieses Heiligtum. Sie glaubt, dass ein tiefes Vertrauen in den Glauben viele muslimische Frauen spirituell auf ihre eigenen Rechte im Schlafzimmer besinnen kann. „Ich denke, dass Frauen den Koran und islamische Texte neu entdecken und sich fragen: ‚Steht das wirklich da drin?‘“, sagt sie. „Sie versuchen, die wahren Lehren des Islams zu entdecken.“
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