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Du kannst auch in einer offenen Beziehung betrogen werden – so wie ich

Foto: J Houston.
Wir schreiben das Jahr 2022: Monogamie ist out, Nicht-Monogamie und Polyamorie sind in. Das ist dir sicher nicht entgangen – schließlich gab es dieses Jahr unter anderem Poly-Storys in den Mainstream-Medien (hi, Gossip-Girl-Reboot), persönliche Erzählungen von Promis wie Bella Thorne und, wenn du viel in Dating-Apps unterwegs bist, auch immer mehr Profile mit der Abkürzung „CNM“ in der Bio („consensual non-monogamy“, also „einvernehmliche Nicht-Monogamie“). Und selbst, wenn all das doch irgendwie an dir vorbeigegangen sein sollte, hast du vielleicht mitgekriegt, dass das Internet eine Zeit lang besessen war von der (imaginären) Dreiecksbeziehung zwischen Paul Mescal, Phoebe Bridgers und Daisy Edgar-Jones. 
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Den meisten von uns ist klar, dass die Liebe viele weitere Formen annehmen kann als die, die uns traditionell vermittelt wurden. Tatsächlich sind immer mehr Menschen dafür offen, diese auch selbst mal auszuprobieren: In Deutschland leben Schätzungen zufolge inzwischen rund 10.000 Menschen polyamor, und laut einer Parship-Umfrage hätten sieben Prozent der Frauen, 16 Prozent der Männer Interesse daran. (Die Umfrage stammt jedoch von 2017; da die Bekanntheit der Polyamorie seitdem zugenommen hat, könnten die Zustimmungswerte heute dementsprechend womöglich größer ausfallen.)
Einer der offensichtlichen Vorteile der Nicht-Monogamie ist die Chance, mit mehr als nur einer Person zu schlafen und eine romantische Beziehung aufzubauen – ein klarer Vorteil für diejenigen, die sich von konventionellen Beziehungsstilen eingeengt fühlen oder Schwierigkeiten haben, einem:einer Partner:in treu zu sein. Das heißt allerdings nicht, dass es in einer komplett nicht-monogamen Welt keine Seitensprünge gäbe. Klar, Polyamorie und einvernehmliche Nicht-Monogamie brechen mit dem traditionellen, monogamen Verständnis des „Fremdgehens“. Das heißt aber nicht, dass es in offenen oder nicht-monogamen Beziehungen nicht zu Untreue kommt – trotz der Optionen und Flexibilität, die sie bieten.
Wie sieht ein solcher Betrug also in einer Beziehung aus, in der du mit mehreren Leuten schlafen darfst? 
Laut der Paartherapeutin Marianne Johnson gibt es durchaus eine einheitliche Definition des Fremdgehens, die sich auf alle Beziehungstypen übertragen lässt. „Ein Seitensprung kann als Abweichung von den Vereinbarungen und Regeln eurer Beziehung betrachtet werden – ganz egal, ob diese Regeln stillschweigend oder explizit festgelegt wurden“, erklärt sie.
In der Monogamie kommt es beim Fremdgehen zu einem Verstoß gegen den zentralen „Vertrag“ eurer Beziehung, sagt sie: die sexuelle und romantische Exklusivität. Obwohl die Regeln in der Nicht-Monogamie andere sind und von Beziehung zu Beziehung enorm variieren können, gibt es auch dort eben Regeln – zum Beispiel die, dass die Grenzen der jeweiligen Partner:innen respektiert werden, oder die, dass alle Beteiligten über die individuellen sexuellen und romantischen Aktivitäten Bescheid wissen sollen. Werden solche Beziehungsregeln missachtet, ist das ebenfalls eine Form des Betrugs und kann sogar als Untreue angesehen werden.
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Schließlich hört sich Nicht-Monogamie zwar sehr pflegeleicht und sorgenfrei an; dabei geht es aber nicht darum, jeden Tag den wildesten, spontansten Sex deines Lebens zu haben. Und selbst, wenn ihr euch in deiner Beziehung auf eine Vereinbarung à la „Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß“ geeinigt habt, habt ihr vermutlich doch beispielsweise Regeln dazu aufgestellt, wie ihr in Sachen Sexualgesundheit auf euch achtet. Polyamorie kann nur dann wirklich funktionieren, wenn du ehrlich und offen kommunizierst, was du anbieten kannst und möchtest. Und ohnehin erfordert eine polyamore Beziehung jede Menge Organisation – geteilte Google-Kalender und regelmäßige Check-in-Gespräche, zum Beispiel.

Damals dachte ich, wir müssten ehrlich damit umgehen, wen wir wann trafen. Es stellte sich aber raus, dass er das alles anders sah. Er glaubte, es sei mehr so ein „Stell keine Fragen“-Ding.

Jackie*, 26
Effektiv erfordert die Nicht-Monogamie das Erschaffen eines ganz neuen Regelwerks, das nicht der sozialen „Norm“ entspricht – und das Vertrauen, dass du und deine Partner:innen sich daran halten. Wird dieses Vertrauen verletzt, ist das ein Betrug, meint Ana Kirova, CEO von Feeld, einer progressiven Dating-App mit über 20 Sexualitäts- und Gender-Optionen. „Für mich ist Fremdgehen nicht nur durch körperliche Grenzen definiert. Da spielt noch so viel anderes eine Rolle“, sagt sie. „Jeder Vertrauensbruch, jede Unehrlichkeit kann meiner Meinung nach schon als Betrug gelten.“
Durch alle Formen des Fremdgehens zieht sich ein gemeinsamer roter Faden: Lügen und eine Missachtung der Gefühle der jeweiligen Partner:innen. Das kennt auch die 26-jährige Jackie*, die eine offene Beziehung mit einem Mann führte, den sie der Dating-App Hinge kennengelernt hatte. Er schlug ihr die Nicht-Monogamie schon beim ersten Treffen vor, und somit wurde sie zur Basis ihrer Beziehung. Sie schienen aber unterschiedliche Vorstellungen davon zu haben, was das bedeutete. „Damals dachte ich, wir müssten ehrlich damit umgehen, wen wir wann trafen. Wir mussten keine spezifischen Details über die Personen nennen, aber sollten doch zumindest Bescheid geben, wenn wir ein Date mit jemand anderem hatten“, erinnert sich Jackie. „Es stellte sich aber raus, dass er das alles anders sah. Er glaubte, es sei mehr so ein ‚Stell keine Fragen‘-Ding.“
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Jackies Ex weigerte sich, ihr von seinem Dating-Leben zu erzählen, erwartete gleichzeitig aber, dass sie ihn über ihres informierte. Diese Doppelmoral wurde so schlimm, dass er irgendwann sogar aktiv seine Dates mit anderen vor ihr verheimlichte, obwohl er Jackie darum gebeten hatte, die Beziehung zu „schließen“ (sprich, keine anderen Leute mehr zu daten). Darauf ließ sie sich ihm zuliebe ein, obwohl sie nicht so begeistert davon war. „Er war sehr kontrollierend und wollte nicht, dass ich mich zu Dates verabredete, während er aber selber datete und es vor mir geheim hielt“, erzählt sie. „Ich fand es dann heraus, als wir uns trennten, dass er sich mit ein paar Leuten sexy Nachrichten schrieb, die er kennengelernt hatte, als wir noch in einer offenen Beziehung waren.“
Die Unehrlichkeit, von der Jackie hier berichtet, dürfte all denjenigen bekannt vorkommen, die auch schon traditionellere Formen des Fremdgehens erlebt haben. Trotzdem sind Kommunikation und Offenheit nicht zwangsläufig das magische Pflaster für gebrochene Versprochen – stellte jedenfalls die 26-jährige Amina* fest, deren Ex-Partner für sie strenge Grenzen zog, sich selbst aber anderswo romantisch austobte. „Er lernte jemand anderen kennen und wollte diese Beziehung vertiefen. Anfangs kam er noch zu mir und fragte mich, was ich davon halten würde und was ich bräuchte, um mich damit wohl zu fühlen“, sagt sie. „Weil ich mich als seine primäre Partnerin am wohlsten fühlte, stellte ich die Regeln auf, dass die neue Partnerin seine Familie nicht kennenlernen oder unter der Woche bei ihm schlafen sollte.“
Aminas Partner akzeptierte diese Regeln. Trotz seiner anfänglichen Offenheit und ihrem gemeinsamen Kompromiss änderte sich alles, als Amina in eine neue Stadt zog und die zweite Beziehung ihres Partners in ihrer Abwesenheit intensiver wurde. Bei einem Telefonat erzählte Aminas Partner, die neue Freundin sei eine ganze Woche lang bei ihm gewesen. Daraufhin war Amina eifersüchtig, verwirrt und verunsichert – vor allem, weil sein Verhalten die Regeln missachtete, die sie vorher besprochen hatten. „Es war ganz komisch. Obwohl er Grenzen überschritten hatte, teilte er mir das offen mit“, sagt sie. „Dadurch fühlte ich mich sehr unwohl. Wir hatten ganz klare Regeln für unsere Beziehung aufgestellt, und obwohl er mir alles erzählt hatte, hatte er diese Regeln eindeutig gebrochen.“
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Wie auch in Jackies Fall endete Aminas Beziehung, nachdem ihr der Vertrauensbruch klar wurde. Trotzdem trennen sich nicht alle nicht-monogamen Partner:innen zwangsläufig nach solchen Regelverstößen. Wie in monogamen Beziehungen kann es auch hier passieren, dass manche Partner:innen beschließen, die Beziehung weiterzuführen, indem sie versuchen, das Vertrauen wieder aufzubauen. Manchmal sind solche Seitensprünge aber ein Zeichen dafür, dass der „Beziehungsvertrag“ nicht für alle Beteiligten funktioniert – und dass eine:r die Bedingungen gern ändern würde.

Letztlich heißt das Abweichen vom sozialen Regelwerk der Monogamie nicht, dass du niemandem mehr etwas schuldig bist. Viel eher ist die Nicht-Monogamie eine Übung in Verantwortungsbewusstsein, Rechenschaft und Vertrauen.

Verletzte Gefühle wie diese lassen sich am besten dadurch vermeiden, indem man sich für potenzielle Veränderungen der Beziehungsvereinbarung öffnet, anstatt neue Gefühle und Prioritäten zu ignorieren und Verpflichtungen dann einfach zu missachten. Johnson meint: „Nicht-monogame Beziehungen erfordern mehr Kommunikation und die Bereitschaft dazu, die Regeln der Beziehung anzupassen, wenn sich die Bedürfnisse und Wünsche aller Beteiligten im polycule [Polykül – das sind alle Menschen, die durch ihre jeweiligen Beziehungen zu den polyamoren Partner:innen miteinander verbunden sind] ändern.“ Dennoch: Wenn ihr selbst durch offene Gespräche und Umstellungen eurer Beziehung feststellt, dass deine ideale Version eurer Beziehung nicht mehr mit der deines Partners oder deiner Partnerin übereinstimmt, kann es an der Zeit sein, einen Schlussstrich zu ziehen und deine Energie anderswo zu investieren.
Letztlich heißt das Abweichen vom sozialen Regelwerk der Monogamie nicht, dass du niemandem mehr etwas schuldig bist. Viel eher ist die Nicht-Monogamie eine Übung in Verantwortungsbewusstsein, Rechenschaft und Vertrauen – sowohl gegenüber deiner romantischen und sexuellen Partner:innen als auch dir selbst. Ja, es geht auch darum, dich auf authentische Art freier ausleben zu können; wie auch in der Monogamie solltest du dabei aber niemanden verletzen.
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*Name wurde von der Redaktion geändert.
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