Lula HyersIn unsteten Zeiten wie diesen scheint die Liebe mehr denn je eine der wenigen Konstanten. Und obwohl sie seit Jahrtausenden scheinbar universellen Gesetzmäßigkeiten unterliegt, gerät auch sie immer öfter ins Wanken. Denn so wunderschön und unvorhersehbar sie ist, so schmerzhaft und vergänglich kann sie auch sein und so sehr sehnen wir uns danach, sie zu halten. Doch ihr unzähmbares Wesen, ihre Sprunghaftigkeit und ihre ständige Liebelei mit dem Unbekannten machen es ihr schwer von Dauer zu sein. Oft zerbricht sie an den kleinen Tücken des Alltags. Immer dann, wenn sie anfangen könnte, Sicherheit zu bieten. Nicht nur die großen Philosophen und Schriftsteller fragen sich seit jeher scheinbar vergebens, wie man sie zum Bleiben überreden kann.
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Mögliche Antworten gab es mit der Zeit natürlich viele, das Patentrezept für eine dauerhaft funktionierende Beziehung war bis heute allerdings nicht dabei. Vielleicht ist genau das ihr Geheimnis – als letzte große Instanz, die wir nie ganz ergründen werden. Und vielleicht ist das auch der Grund, warum immer öfter die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die in den letzten Jahrzehnten für sie geschaffen wurden, in Frage gestellt werden. Hierzulande gemeinhin zelebriert in trauter, gleichwohl gewohnter Zweisamkeit suchen vor allem junge Menschen immer öfter Antworten fernab der Monogamie. Für eine Generation, die es gewohnt ist, auch in anderen Lebensbereichen aus einem Pool vieler Möglichkeiten zu schöpfen, keine Überraschung. Ich schließe mich da nicht aus, und doch war ich in Sachen Beziehung nie sehr viel mutiger als das gesellschaftliche Reglement es vorsieht. Wenn es nicht mehr funktioniert hat, habe ich mich eben getrennt und nach der nächsten Liebe gesucht. Aber soll das immer die Lösung sein?
Sandra hat sich für einen anderen Weg entschieden. Sie hat sich getraut, althergebrachte Beziehungsformen zu hinterfragen, nachdem sie die Monogamie erst mit einem Mann und dann mit einer Frau erprobt hat. Bis sie sich für die Polyamorie entschieden hat. Heute liebt Sandra nicht mehr nur einen Menschen, sondern viele gleichzeitig. Ebenso wie ihre Partner. Als wir uns vor etwa sieben Jahren das erste Mal in Berlin begegneten, lebte sie noch mit ihrer damaligen Freundin zusammen. Auch wenn ich die beiden für ihre sexuelle Freizügigkeit beneidet habe – ihre romantische, ja beinahe altbackene, Einstellung zum Thema Beziehungen fand ich fast etwas überholt. Bis sie mich überholte und ausbrach. Heute ist der Lebensmittelpunkt der gebürtigen Schwedin wieder das beschauliche Stockholm – allein in einer Zweizimmerwohnung. Allein ist sie dort allerdings nur, wenn sie es möchte. Denn gemeinsam mit Olivia und Tim hat sie sich für die Liebe zu dritt entschieden und lebt seit drei Jahren in dieser polyamoren Dreieckskonstellation – eine Konstellation mit Höhen und Tiefen, wie in jeder anderen Beziehung auch, wohl aber mit weniger Heimlichtuerei.
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Als sich Sandra als erste und bis dato noch immer einzige in unserem Freundeskreis für diese Beziehungsform entschieden hat, sind wir ehrlich gesagt davon ausgegangen, dass das nur eine ihrer experimentellen Übergangsphasen ist. Damit lagen wir falsch. Bis heute ist sie eng mit ihrer polyfamily – wie sie sich selber nennen – verbandelt. Auch wenn sie mir seit vielen Jahren beweist, dass es geht – für mich wäre diese Art zu leben (noch?) nichts. Um eine Sache beneide ich sie dennoch: die ganz offensichtlich fehlenden Dramen. Denn egal, wann sich jemand in unserer Runde wieder einmal über den Partner oder die Partnerin beklagt – von ihr hört man dergleichen so gut wie nie.
Woran das wohl liegt? Diese Frage habe ich mir selbst immer und immer wieder gestellt, bevor ich damit endlich an sie herangetreten bin. Anstatt sie zu beantworten, lädt sie mich zu einem Vortrag ein. Das Thema: Metamours. Metamours bezeichnen in der polyamoren Community die anderen Partner des Partners – die, mit denen sich der andere noch trifft und mit denen man selbst sehr wohl eine platonische, aber keine romantische Beziehung hegt. Das Geheimnis ist also nicht nur so viele Partner haben zu dürfen, wie einem beliebt, sondern mit so offenen Karten zu spielen, dass alle voneinander wissen – sich im Zweifel sogar kennen. Dieser Ansatz wird längst nicht in allen polyamoren Beziehungen so zelebriert; für Sandra, Olivia und Tim war es aber die Lösung, um dauerhaft glücklich zu werden. Davor wurde sie nämlich schon von ihnen geplagt – von den Zweifeln und Fragen, wer denn die anderen sind, mit denen Tim seine Zeit verbringt, wenn sie sich nicht sehen.
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Irgendwann hält Sandra dieses Kopfzerbrechen nicht mehr aus und bittet Tim, mit offenen Karten zu spielen und die anderen Frauen treffen zu dürfen. Zuerst irritiert, willigt er dann aber doch ein. Der Rest ist Geschichte: Sandra und Olivia lernen sich kennen und lieben – zwar nur rein platonisch, aber immerhin so sehr, dass sie fortan zu dritt als ‚Familie‘ ihre Zukunft bestreiten wollen. Beide haben ihre Zeit in trauter Zweisamkeit mit Tim – die eine am Mittwoch, die andere am Donnerstag – zusätzlich treffen sich alle gemeinsam jeden Sonntag. Manchmal verbringen Sandra und Olivia auch alleine Zeit miteinander, als Freundinnen und Leidensgenossinnen. Dann fahren sie in Sandras Sommerhaus und streifen durch die Wälder Schwedens, pflanzen Tomaten und Zucchini oder trinken Kaffee. Neben ihrem grünen Daumen verbindet sie dabei vor allem eines: die Liebe zum selben Mann. Ein Mann, der zugegeben nicht ganz einfach ist. Seit sie ihn aber offiziell „teilen“, teilen sie auch die Probleme, die jede mit ihm hat. Bei niemandem sind diese Sorgen besser aufgehoben, als bei der jeweils anderen. „Geteiltes Leid, ist halbes Leid“ heißt es so schön – bei ihnen trifft das zu. Im Umkehrschluss scheinen sich aber auch die Glücksmomente zu verdoppeln, zumindest nach dem Chat-Verlauf der selbsternannten Familie auf WhatsApp zu urteilen. Wenn sie sich nicht sehen, schicken sie sich gegenseitig Liebesbeweise in Videoformat hin und her, halten sich auf dem Laufenden, was der andere gerade macht. Manchmal Sandra mit Tim, manchmal Olivia mit Tim – Einblick haben alle gleichermaßen.
Klingt für einen Außenstehenden fast so, als wäre das nur noch mehr Zündstoff für Eifersucht, oder? Ist die denn nun wirklich kein Thema mehr? Doch, hin und wieder schon, gibt Sandra zu! Aber selten. Und wenn, dann suchen sie einfach das Gespräch miteinander.
Und wie lässt sich das auf monogame Beziehungen übertragen? Metamours sind das beste Beispiel dafür, dass es manchmal einfach ein wenig mehr Kommunikation bedarf. Wenn wir also bereit wären, öfter über unseren Schatten zu springen – egal ob in einer monogamen oder polyamoren Beziehung – dann könnte das schon fast alles sein. Denn oft sind es nur die eigenen Hirngespinste, die Probleme schaffen, wo eigentlich keine sind. Das Geheimnis ist also, offen miteinander zu reden und die vermeintlichen Feindbilder – Ex-Partner*innen oder Kolleg*innen – einfach beim Namen zu nennen, sich ihnen zu stellen und Ängste auszusprechen, um im besten Fall festzustellen, dass sie grundlos waren. Im schlimmsten Fall waren sie das nicht, aber dann hat man wenigstens Gewissheit.
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