„Wir haben jetzt drei Wochen keinen Sex mehr gehabt“, platzt mein Freund aus dem Nichts heraus. Ich ignoriere ihn, wie gewohnt, und fahre mit der Zubereitung eines besonders verzwickten Sonntagsbraten fort. „Wovon zur Hölle redest du überhaupt?“, fauche ich nach einer Ruhepause zurück. Kurz grüble ich, widme mich wieder dem Essen während ich im Kopf unsere letzten intimen Momente durchspiele. Letzte Woche, zum Beispiel, da hatte er doch einen Steifen. Aber dann ist nichts passiert. Und vor ein paar Tagen haben wir’s, naja, fast getrieben. Vor 4 Wochen waren wir kurz davor, doch dann klingelte mein Telefon, daran kann ich mich erinnern. Na gut…
Meine Langzeitbeziehung hat sich als das genaue Gegenteil dessen herausgestellt, was ich von ihr erwartet hatte. Seit fast drei Jahren bin ich mit meinem Freund zusammen, aber ein bleibendes Gefühl von Sicherheit oder Sesshaftigkeit hat sich da bisher nicht breitmachen wollen. Das fühlt sich ein bisschen an wie falsche Werbung. Die Beziehung hat mich eigentlich eher ängstlich gemacht; ängstlich wie eine Hausfrau in den 50ern, die kein Natron mehr im Küchenschränkchen hatte.
In früheren, kürzeren Beziehungen hatte ich sofort das Bedürfnis, mich in den Schlaf zu weinen, wenn ich merkte, dass der Typ an meiner Seite nicht mehr ständig Sex mit mir haben wollte. Ich belächelte die in meinen Augen absurde Vorstellung, dass man in längerfristigen Beziehungen weniger miteinander schlief. Was tut man denn sonst die ganze Nacht? fragte ich mich. Nun ja, mittlerweile kenne ich die Antwort ganz genau: Dinge von Hand waschen, Essen in Betracht ziehen, das man vorher nicht einmal angefasst hätte, Box-Sets und Streamingdienste nutzen, um anderen Menschen beim leidenschaftlichen Sex zuzuschauen – wer The Affair auf Netflix gesehen hat, weiß, wie anstrengend das schon sein kann. Da vergisst man schonmal, selbst Sex zu haben.
Es ist schon beängstigend, dass ich jene Aufregung, die ich früher verspürte, wenn mein Freund und ich es heimlich im Flur trieben während unsere Freunde im Wohnzimmer warteten, jetzt beim Anblick der Google Analytics Statistiken meiner Webseite erlebe. Was mich einst sexuell erregte, hat mittlerweile keine Relevanz mehr. Wenn mir Leute Tipps geben, wie wir unser Liebesleben aufpeppen könnten, wird mir regelmäßig schlecht und ich reagiere eigentlich nur noch mit grobem Augenrollen. Die einzige Würze, die wir mittlerweile kannten, war das Chillipulver in unserem Essen.
Manchmal vergesse ich sogar, dass er mein Freund ist. Keine seiner Verhaltensweisen ist mir noch neu. Ich kann sogar ziemlich genau sagen, wie lange der Sex dauern wird, wie oft ich kommen werde, und das noch bevor es eigentlich losgeht – wahrscheinlich komme ich ein Mal; am Wochenende, wenn ich mich besonders schön fühle, vielleicht zwei – und es ist auch vorhersehbar, welche Positionen wir dabei einnehmen (auch hier in der Regel eine; am Wochenende, wenn es gut läuft, zwei).
Was sollte ich also tun? Verzweifelt, wie ich plötzlich war, beschloss ich drastische Maßnahmen zu ergreifen. Ich war fest entschlossen, meine Biederkeit abzulegen und mich kopfüber in heiße Flirts und Promiskuität zu stürzen.
Als mich der nette Türke aus dem Späti auf eine Tüte Chips einlud, fragte ich ihn nach seiner Nummer. Am nächsten Tag bot mir ein heißer Mittvierziger in der Ubahn seinen Platz an, ich fragte kokett, ob ich mich auf seinen Schoß setzen durfte. Er sagte ja, ich stieg an der nächsten Haltestelle aus. Ich gebe zu, dass meine Versuche etwas unter die Gürtellinie gingen, aber es waren Versuche.
Mein Verlangen nach Bestätigung außerhalb meiner Beziehung wurde bald so groß, dass ich mich sogar an ein paar heterosexuelle Kollegen ranschmiss. Widerwärtig!
Unter meinem Decknamen „Daisy Clover“ registrierte ich mich irgendwann auf Tinder, mit einem super heißen Profilbild und allem drum und dran. Ich fing an, mit einem gewissen ‚Mike69‘ zu chatten. Ich flirtete, was das Zeug hielt, wandte Sprüche an, die ich ca. 2007 auf MSN Messenger gelernt hatte. Aber als Mike69 probierte, mit „drei BMWs“ Eindruck bei mir zu schinden, zog ich die Notbremse: „Süßer, BMW könnte in meiner Welt auch eine STD sein, ich interessiere mich für so etwas nicht.“
Während ich mein Doppelleben lebte, entfachte ganz nebenbei auch privat ein ganz neues Feuer. Und selbst, wenn wir nicht in Dauerschleife vögelten, hatte ich immerhin ein bisschen mehr Sex. Parallel erlebte ich durch Daisy Clovers Bekanntschaften die Aufmerksamkeit, die mir mein Freund in den Anfängen unserer Beziehung auch gewidmet hatte.
Mit der Zeit lernte ich, die Spielchen nachzuholen, die viele Paare in der Regel in der ersten Kennenlernphase durchmachten – unsere Kennenlern-Spielchen bestanden darin, dass wir zufällig immer wieder die letzten Gäste in unserer Lieblingskneipe waren. Wenn mein Freund mich mal wieder imitierte, fing ich einen kleinen Streit an – das ist eins meiner Talente –, wir spielten uns gegenseitig hoch und hatten anschließend den klassischen Wiedergutmachungssex. Es war so einfach. Ich frage mich tatsächlich, warum man in der Phase des sowieso schon hocherotischen frisch-verliebt-seins auch noch solche Spiele spielt, wenn man sie doch tatsächlich erst ca. drei Jahre später braucht.
Meine Methode war vielleicht weder moralisch korrekt, noch konventionell; es mag sein, dass ich meinem Freund emotional fremdgegangen bin, und ich bin sicher, dass die Welt über uns zusammenbrechen würde, sollte er das alles herausfinden – aber ich musste um jeden Preis einen kleinen Tropfen Öl in dieses fast schon erloschene Feuer geben. Und es hat geklappt.