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Wie „Therapie-Sprache“ deine Beziehungen ruiniert

Foto: Serena Brown.
Stell dir mal Folgendes vor: Eine deiner Freundinnen scheint sich schon seit ein paar Wochen von dir zu distanzieren. Du fragst sie, ob alles okay ist. „Ich habe unsere Saison der Freundschaft wirklich genossen“, sagt sie in ruhigem Ton mit einem bittersüßen Lächeln auf den Lippen, „aber wir bewegen uns im Leben in verschiedene Richtungen.“
Viele Leute würde diese gleichgültige Antwort wohl aufregen. Trotzdem ist das genau die Art von „Freundschafts-Trennung“, die die Psychologin Dr. Arianna Brandolini in einem viralen TikTok empfiehlt. In dem Video erzählt Brandolini einer imaginären Freundin, sie habe nicht mehr „die Kapazitäten, um in die Freundschaft zu investieren“. „Es tut mir leid, falls sich das schmerzhaft und verwirrend anfühlt“, beendet sie ihren Monolog auf verstörend geschäftsmäßig-robotische Art. „Ich wünsche dir viel Liebe und Erfolg.“
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Brandolinis Video mit dem Titel „So machst du mit Freund:innen Schluss“ kassierte schnell wütende Kritik. Viele werfen der Psychologin vor, das Ende einer Freundschaft derart „herablassend“ und sogar „soziopathisch“ anzugehen. „Auch ich spreche mit meinen Freund:innen so, als sei ich ihr Personalleiter“, schreibt jemand, und jemand anderes kommentiert: „Das fühlt sich SO steril und konfliktscheu an, OMG.“
Viele waren von der offensichtlichen Kälte von Brandolinis Video schockiert. Dabei ist es nur ein Beispiel für einen Kommunikationstrend, der schon seit einiger Zeit an Fahrt gewinnt. Seit ein paar Jahren sieht man online immer mehr Videos, Posts und Memes, die uns diese psychologische „Fachsprache“ anpreisen.

Es ist viel schwerer, jemanden als schlechte:r Freund:in oder selbstsüchtig zu kritisieren, wenn diese Person ihre Absichten hinter pseudowissenschaftlichen Begriffen verbirgt, die sie auf TikTok gelernt hat.

charlotte
Seit Beginn des digitalen Zeitalters ist unser Zugang zu Therapien und Therapeut:innen immer leichter geworden – und daraus ist ein völlig neues Kommunikationssystem entstanden. Wir werden heute dazu ermutigt, „Grenzen zu ziehen“, „toxische Menschen“ aus unserem Leben zu streichen und uns in Beziehungen vor „Gaslighting“, „Narzissmus“ und „Love-Bombing“ in Acht zu nehmen. Im Prinzip sind das alles natürlich gesunde Ideen. Aber was passiert, wenn diese Sprüche und Begriffe auch in unserer Alltagssprache ankommen? In einem Artikel im New Yorker nannte Katy Waldman dieses Phänomen 2021 den „Aufstieg der Therapie-Sprache“ – und Brandolinis Video ist das perfekte Beispiel für Therapie-Sprache im Alltag.
Wie die meisten Dinge, die sich im Zeitalter von Social Media entwickelt haben, ist auch die Therapie-Sprache das Ergebnis fehlender Genauigkeit. „Die sozialen Medien reduzieren hochkomplexe Situationen und Gespräche gerne auf 30-sekündige Videoschnipsel“, meint die Psychologin Lauren Cook. „In Wahrheit würden diese Gespräche eher 30 Minuten dauern – nicht 30 Sekunden.“
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Wie uns die Therapeutin Crystal Britt erklärt, wollte Brandolini vermutlich gar nicht, dass wir ihr kurzes Video als „echtes“ Gespräch wahrnehmen und nachahmen. Stattdessen sollte es die Prinzipien gesunder Kommunikation verdeutlichen. „Um mit ihrem Content psychologische Themen zu vermitteln, müssen Therapeut:innen solche Interaktionen auf das Wesentliche reduzieren. Dadurch können sie sehr steril wirken“, meint sie.
Wir haben bei Brandolini nachgefragt, die uns bestätigt, dass ihr Video – wie Britt schon vermutete – eher als eine Art „Gesprächschablone“ dienen sollte. „Das Video soll normalisieren, dass es manchmal nötig ist, eine Freundschaft zu beenden, die dir mehr schadet, als dass sie dir guttut“, meint Brandolini. „[Das Video] war absichtlich so unpersönlich gestaltet, weil es ein Template sein sollte. Freundschaftsprobleme sind so individuell, dass sie sich nicht verallgemeinern lassen. Diese Vorlage sollen die Leute dann gerne so anpassen, wie sie möchten – und natürlich auch ein Gespräch führen, das länger dauert als 30 Sekunden!“
Selbst wenn Videos wie das von Brandolini eigentlich nur als informative Vorlage dienen sollen, mit deren Hilfe wir uns und unsere Beziehungen besser verstehen sollen, passiert etwas Merkwürdiges, wenn wir sie für bare Münze nehmen und uns auf solche Techniken verlassen, anstatt eine echte Therapie zu machen. Und während wir immer mehr dieser Videos serviert bekommen, die psychologische Konzepte aufs absolute Minimum reduzieren, ahmen manche von uns genau das nach. Immerhin werden uns diese „How to“-Videos neben anderem informativen und anleitenden Content gezeigt – ob nun über Skincare, Make-up oder Mode. Und genau dann wird es gefährlich. Wenn diese kurzen Videos nämlich unser einziger Zugang zur Welt der Therapie sind, gewinnen wir daraus nur ein sehr grobes Verständnis komplexer Themen.
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Brandolini räumt ein, dass dieses „Therapie-Sprache“-Phänomen vieles verkomplizieren kann. „Es ist toll, dass wir [online] Informationen zu mentalen Problemen bekommen und diese dadurch normalisiert werden. Aber auch hier besteht das Risiko, dass dieses Wissen missbraucht, fehlinterpretiert oder als Waffe verwendet wird“, sagt sie. „Man kann diese Worte und Konzepte aus ihrem Kontext reißen und als Rechtfertigung für schlechtes Verhalten benutzen. Es kann außerdem ungesunden Egoismus befeuern. Deswegen ist es so wichtig, Mental-Health-Medien als Zusatz zu einer Therapie zu nutzen, nicht als Ersatz.“
„Bei einer therapeutischen Behandlung geht es dabei darum, therapeutische Fachausdrücke und therapeutisches Wissen im Alltag zu verwenden“, meint Britt. „Wenn TikTok aber die einzige Informationsquelle zu gesunder therapeutischer Fachsprache ist, finde ich das gefährlich. Wenn du dich fragst, ob dein:e Partner:in narzisstisch ist, solltest du das nicht googeln, sondern dir eine professionelle Meinung einholen. Genau für sowas werden wir schließlich ausgebildet.“
Ohne diese professionelle Hilfe haben viele von uns aber inzwischen damit angefangen, ihr halbgares Wissen zu psychologischen Konzepten in Situationen anzuwenden, in denen diese Konzepte einfach nicht zutreffen. Wenn wir uns zum Beispiel unwohl, unglücklich oder unruhig fühlen, bedienen wir uns vielleicht einem Fachbegriff, von dem wir glauben, er sei passend. Schnell ist unsere Sprache daraufhin voller therapeutischer Begriffe – selbst wenn wir die gar nicht wirklich verstehen. Die Konsequenz davon ist, dass diese wichtigen Konzepte an Bedeutung verlieren und unsere Gespräche und Beziehungen von zunehmend vagen, bedeutungslosen Sprüchen verwässert werden.
Der Reiz, psychologische Begriffe und Konzepte direkt in Gesprächen mit Freund:innen zu verwenden, ist verständlich. Therapeutische Sprache verspricht uns immerhin, all das Chaos zu beseitigen, das mit menschlichen Beziehungen einhergeht, und alles in emotionale Kisten zu sortieren. Theoretisch gibt es gegen dieses emotionale „Aufräumen“ ja auch nichts einzuwenden; schließlich sollte uns ein besseres psychologisches Verständnis dabei helfen, uns besser zu verstehen und unsere Gefühle ausdrücken zu können. „Als Psychologin finde ich es toll, wenn Leute mehr über die Fachbegriffe rund um mentale Gesundheit wissen wollen“, meint Cook. „Wie in jedem anderen Thema – ob nun Wirtschaft, Politik oder sozialer Gerechtigkeit – gilt auch hier: Je mehr wir lernen und diskutieren, desto besser.“
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Wie Brandolinis Video und andere ähnliche Beispiele demonstrieren, kann „Therapie-Sprache“ in ihrer extremsten Form unseren Beziehungen aber ihre Menschlichkeit und Empathie rauben. Gefällt uns an der „Therapie-Sprache“ am meisten, dass wir dadurch alles so gut „aufräumen“ können, dass wir echte Emotionen gar nicht mehr an uns heranlassen? Dass wir uns dadurch davon überzeugen können, dass nichts, was wir fühlen oder tun, jemals „falsch“ sei? Ein Beispiel: Wenn wir jemandem spontan absagen, können wir das als „Grenzenziehen“ verherrlichen. Und wenn wir eine Freundschaft kündigen, bezeichnen wir das vielleicht als „Umverteilung der Kapazitäten“.
Hinter dieser Art der „Therapie-Sprache“ verbirgt sich somit etwas Düsteres. Sie erlaubt es uns, uns mit einer Sprache zu bewaffnen, die sich als empathischere, rücksichtsvollere Form der Kommunikation ausgibt – obwohl sie in Wahrheit unsere selbstsüchtigsten Entscheidungen rechtfertigen soll. Diejenigen, die damit in der realen Welt konfrontiert werden, empfinden „Therapie-Sprache“ tatsächlich oft als verschleierten Egoismus.
„Es gibt einen Unterschied dazwischen, nötige und wichtige Grenzen innerhalb einer Freundschaft zu ziehen, und ‚Therapie-Sprache‘ als Rechtfertigung für Rücksichtslosigkeit zu benutzen“, meint die Redakteurin Charlotte, die aus eigener Erfahrung spricht. „Es ist viel schwerer, jemanden als schlechte:r Freund:in oder selbstsüchtig zu kritisieren, wenn diese Person ihre Absichten hinter pseudowissenschaftlichen Begriffen verbirgt, die sie auf TikTok gelernt hat.“
Auch die 33-jährige Sarah, die in ihren Freundschaften schon „Therapie-Sprache“ gehört hat, meint: „Ich verstehe ja, wenn man manchmal Grenzen ziehen will. Aber ich hasse es auch, wenn jemand andere Leute wie Waren behandelt. Wenn du deine Freund:innen dauernd ‚therapierst‘, lässt du damit ihre Gefühle außer Acht.“
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„Ich finde, Therapie-Sprache kann sehr klinisch rüberkommen“, sagt Louise, 28. „Du musst dabei echt vorsichtig sein, mit wem du sprichst. Diese Begriffe und Sprüche kannst du nicht einfach als allgemeingültige Vorlage benutzen, um all deine Freundschaften zu beenden. Jeder Mensch ist anders; also sollte auch jedes Gespräch unterschiedlich aussehen, abhängig davon, was die andere Person von dir hören möchte.“
Dir online ausgebildete Therapeut:innen anzuschauen, hilft dir vielleicht dabei, deine Beziehungen und Kommunikationsprobleme besser zu verstehen. Es qualifiziert dich aber nicht dazu, dich oder deine Beziehungen zu diagnostizieren, oder dazu, mit deinen baldigen Ex-Freund:innen wie mit Patient:innen in deiner Amateur-Therapie-Praxis zu sprechen. Beende eine Freundschaft, wenn du das möchtest. Aber bitte verzichte dabei auf Therapie-Sprache.
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