Mein chinesisches Lieblingswort ist gleichzeitig eins, das ich früher sehr ungern verwendet habe: Wuliao. Übersetzt bedeutet es in etwa “Abwesenheit von Konversationen“, man könnte aber auch sagen, es steht für das Gefühl “zu gelangweilt“ zu sein. Du bist nicht nur gelangweilt, sondern eben zu gelangweilt – und das ist der Schlüsselbegriff hier. In Frankreich sagt man dazu “enfiler des perles“ (die Perlen auffädeln); in Spanien “comerse un cable“ (auf einem Kabel kauen). Aber soweit ich weiß, gibt es im Deutschen keine vergleichbare Redensart, die uns die Langeweile als eine Kunstform vermitteln könnte.
In meiner Kindheit war Wuliao etwas, das ich auf alle Fälle vermeiden wollte. Meine Schwester und ich mussten den Großteil unserer außerschulischen Aktivitäten mit Klavierstunden, Tanzkursen, Sport und Hausaufgaben verbringen. Und weil das anscheinend nicht genug war, erwarteten unsere Eltern, dass wir unsere sowieso schon begrenzte Freizeit mit akademisch wertvollen Dingen füllten – sprich: Geometrieaufgaben lösen, Französisch lernen oder ein Essay schreiben (japp, zum Spaß). Aber wir waren Kinder, keine Roboter, und hatten oft natürlich überhaupt keine Lust darauf.
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Immer, wenn ich dabei erwischt wurde, wie ich meine Freizeit für etwas nutzte, dass mich im Leben nicht sehr viel weiterbringen könnte, riefen mir meine Eltern gleich ein „Wuliao“ hinterher. Einmal wollten meine Nachbarin und ich uns Schlammmasken machen – so wie die Frauen im Fernsehen. Wir schmierten uns den Teichschlamm, den wir ausgegraben hatten, auf die Beine und legten uns in die Auffahrt. Als meine Mutter zum Einkaufen fuhren wollte und uns da so liegen sah, schnaubte sie sofort „Wuliao“ in meine Richtung. Kaum hatte ich ihre Stimme gehört, rannte ich, so schnell ich konnte, ins Haus und schrubbte meine Beine sauber, damit ich, wenn sie zurückkam, wieder vor dem Klavier saß.
Von da an weckte die Art, wie unsere Gesellschaft Produktivität und Selbstoptimierung versteht, Wut in mir. Ich hasste das alles so sehr, dass ich wirklich gut darin wurde, meine Hausaufgaben auf der Busfahrt nach Hause zu erledigen und den Lernstoff für die Klassenarbeiten im Kurzzeitgedächtnis zu behalten. Aber produktiv zu sein, war ein Mittel zum Zweck. Eine Möglichkeit, so lange wie möglich Wuliao zu erleben.
Langeweile war schon immer ein Privileg. Aber besonders jetzt, wo wir zu Hause bleiben, sollten wir dieses Privileg noch mehr zu schätzen wissen. Es gibt so viele Menschen, die nach draußen müssen, weil sie sich um Alte und Kranke kümmern. Andere versuchen, zwischen Kinderbetreuung und Home Office, keinen Burnout zu kriegen. Und für sehr viele brachte die Corona-Krise auch finanzielle Sorgen und Zukunftsängste mit sich. Für sie ist Wuliao keine Option. Andere, ein paar Glückspilze, haben jetzt dagegen reichlich Zeit und sind auch in der Lage, sich wirklich zu langweilen. Selbst, wenn sie durch Spenden, anderen in Not helfen oder der älteren Nachbarin einmal in der Woche Lebensmittel vorbeibringen, bleibt ihnen noch genug freie Zeit übrig. Und hier erwartet die Gesellschaft Produktivität. „Wenn du nach dieser Selbst-Isolation keine neuen Skills erlernt hast, endlich dein eigenes Business gestartet hast, oder dich weitergebildet hast, fehlte es dir nie an Zeit, sondern an Disziplin.“ Dieser Spruch kursiert schon seit Beginn der Krise auf Insta. Und er bekommt viel Zuspruch. Viele haben sich für die Selbst-Isolation vorgenommen, das Traumgewicht zu erreichen oder gar ein Drehbuch zu schreiben.
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Ich finde aber, Produktivität sollte das Letzte sein, woran wir jetzt denken. Den nächsten König Lear zu schreiben – was Shakespeare in der Quarantäne wegen der Pest verfasste und jetzt zum Sinnbild dafür geworden ist, dass wir alle während dieser Pandemie große Kunst machen sollten – bringt nur etwas, wenn Schreiben dir auch wirklich Spaß macht. Ansonsten ist es nur ein zu hoch gestecktes Ziel, das dich im Prozess frustriert und anderen ein schlechtes Gefühl gibt, weil sie sich derzeit nur auf's Überleben konzentrieren können.
COVID-19 hat bereits eine neue Realität geschaffen. Zu versuchen, angesichts dessen produktiv zu sein, ist für viele eine sehr große Hürde, die sie (wenn überhaupt) nur mühsam bewältigen können. Diese wirklichen Tragödien durchzumachen und sich gleichzeitig schuldig zu fühlen, dass man noch nicht angefangen hat, eine neue Sprache zu lernen, ist nicht nur schwachsinnig, sondern auch gefährlich.
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass das verbitterte Streben nach Produktivität selten positive Auswirkungen auf dich hat. Du siehst das große Ganze nicht mehr und hast Angst davor, einfach mal Pause zu machen – und gerade diese Dinge tun unserer Gesundheit so gut. Wuliao hingegen bringt Ruhe, Zufriedenheit und Kreativität hervor. Deshalb finde ich, wir sollten alle Wuliao als Corona-Philosophie verinnerlichen.
Was ich an Wuliao liebe, ist die Tatsache, dass es das Ergebnis extremer Langeweile mit der Achtung behandelt, die es eigentlich verdient, selbst wenn dieses im Grunde wertlos ist. Dank Wuliao wissen wir, dass ein Projekt völlig unsinnig und eine Zeitverschwendung sein kann und einfach nur das Produkt der Langeweile ist, und das ist in Ordnung. Dennoch erfordert sogar diese Langeweile Intelligenz. Mit Wuliao kreierst du ein komplettes türkisches Gericht im Kleinformat – mit dattelgroßen Kebab-Spießen und einem Mini-Teller Künefe. Mit Wuliao schmierst du dir alle Lidschatten, die du besitzt, auf deine Beine, und machst so ein abwaschbares Kunstwerk.
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Day 23: It’s 11:30am and I’ve smeared eyeshadow all over my hairy legs pic.twitter.com/o4GPRuTnqK
— la lloronavirus (@meaganrosae) April 4, 2020
Meine Schwester verbringt die Selbst-Isolation bei mir und meinem Mann. Irgendwann schlug sie vor, ein ganzes Abendessen aus Unsere kleine Farm nach historisch genauen Rezepten zuzubereiten. Es hat nicht wirklich gut geschmeckt, aber das Kochen war trotzdem ein tolles Erlebnis.
Und als ich am 14. Tag der Selbst-Isolation Greta Gerwigs Film Little Women sah, fiel mir auf, wie anders ich jetzt über die Szene mit dem Krippenspiel denke. Jo schrieb und inszenierte das ganze Spiel nur für ihre Schwestern und Nachbarskinder. Als ich das Buch als Kind gelesen habe, dachte ich, was für eine Zeitverschwendung das doch war. Jetzt, angesichts der Tatsache, dass ich drei Filme an einem Abend schauen kann, verstehe ich Jo.
Und wie bei Jo sind es die Dinge, die wir tun, wenn wir unserem Unterbewusstsein freien Lauf lassen, die uns einen Hinweis darauf geben, was unsere Seele tatsächlich antreibt. Dieser Zeitvertreib führte Jo letztendlich zu ihrer Karriere als Schriftstellerin. Und es waren die unzähligen Stunden, die ich damit verbrachte, schlechte Websites zu erstellen – nicht die Stunden am Klavier –, die zu meiner führten. Natürlich geht es bei Wuliao nicht darum, über die Zukunft nachzudenken.
Wuliao bedeutet, du trainierst nicht, um ein bestimmtes Körpergewicht zu erreichen. Du machst Sport, um gesund zu bleiben. Du musst kein fancy Essen kochen, nur weil alle anderen es tun. Koche, weil du etwas Gutes essen willst. Lass dich nicht auf Wuliao ein, um auf Tiktok viral zu gehen. Anstatt deine Freizeit damit zu verbringen, zu maximieren und zu optimieren, solltest du sie einfach mal vergeuden.
In dem Buch How To Do Nothing spricht die Autorin Jenny Odell darüber, wie das Streben nach Produktivität – getrieben von Kapitalismus, Wettbewerb und Konsum -– unsere Aufmerksamkeit nach außen gelenkt hat, so dass wir uns leer und ziellos fühlen. Aber erst, wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf uns selbst richten, und echte Selfcare betreiben, sind wir richtig Mensch.
Kreativität und Offenheit, so schreibt sie, erfordern Langeweile und das Nichtstun, zwei Dinge, die einige von uns glücklicherweise haben dürfen, da sie gerade jetzt im Überfluss vorhanden sind. Verschwende sie also nicht.
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