Ich datete so, wie ich Alkohol trank – viel auf einmal, hintereinander weg, ohne zu merken, wann Schluss sein sollte, und gefolgt von jeder Menge Reue.
Meinen ersten Kuss bekam ich mit 12. Mein zweiter folgte mit 18, in derselben Nacht, als ich zum ersten Mal Alkohol trank. Die beiden Männer, mit denen ich meine längsten Beziehungen führte, lernte ich während des Studiums in Bars kennen. Mein Liebesleben und Alkohol gingen für mich nicht bloß Hand in Hand – Alkohol machte das Dating überhaupt möglich.
Als mein Alkoholkonsum im April 2021 plötzlich versiegte, kam auch mein Liebesleben zu einem abrupten Halt. Es fiel mir sehr schwer, einem Quasi-Fremden zu erklären, wieso ich mit dem Trinken aufgehört hatte, während ich ja selbst noch versuchte, das zu begreifen. Noch dazu hatte ich gar keine Ahnung, wie Dating ohne Alkohol überhaupt aussehen sollte.
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Es war aber nicht so, als hätte ich es nicht ausprobiert.
In den ersten Wochen meines neuen nüchternen Lebens ging ich auf Dates, nach denen ich das Gefühl hatte, irgendwas müsse mit mir nicht stimmen. Ich konnte nicht über meine Beziehung zum Alkohol sprechen, ohne dass das Ganze dabei wie eine Beichte klang. Nach einer Handvoll unangenehmer Gespräche bei einem Glas Selter in einer Weinbar beschloss ich, eine Dating-Pause einzulegen.
Das war nicht so leicht, wie es sich vielleicht anhört; es fühlte sich richtig merkwürdig an, mal nicht zu daten. Ich war sonst immer jemand gewesen, die dauernd mit wem was anfing, mit jemand anderem etwas beendete oder versuchte, über jemanden hinwegzukommen. Weil ich so sehr damit abgelenkt gewesen war, andere Leute kennenzulernen, hatte ich mich nie mit mir selbst beschäftigt. Und das war mir so auch ganz recht gewesen.
Durch die ganze neue Single-Freizeit geriet ich jetzt aber in Panik. Ich stürzte mich in ein Hobby nach dem anderen – ich begann zu zeichnen, zu schreiben, stellte Blumengestecke zusammen. Ich frischte mein Spanisch auf. Ich schloss mich einer Laufgruppe an und fing wieder an zu tanzen. Meine Freund:innen und ich veranstalteten Dinner-Partys und Poetry-Slams. Und anstatt zu versuchen, diesen oder jenen Künstler um den Finger zu wickeln, versuchte ich, die Künstlerin in mir zu entdecken.
Währenddessen verwandelte sich mein Sozialleben unter dem fehlenden Einfluss von Alkohol. Im Laufe der Monate lernte ich in meinen neuen Communitys interessante Leute kennen. Zu meiner Überraschung baten mich mehrere davon um eine Verabredung. Obwohl ich mich selbst mehr mochte, seit ich nicht mehr trank, war ich bis dahin nicht auf die Idee gekommen, dass mich auch andere Leute jetzt mehr mögen könnten.
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Ich will damit nicht behaupten, dass die Frage nach einem Date mit mir das Wundermittel gewesen sei, durch das ich mich jetzt endlich damit wohl fühlte, ganz offen über meine Nüchternheit zu sprechen. Es zeigte mir aber sehr wohl, dass Dating natürlich auch ohne Alkohol möglich war – eine Lovestory, die mir so in den Rom-Coms meiner Jugend nie gezeigt worden war. Als ich durch Aktivitäten wie Laufen oder Schreiben neue Leute kennenlernte, bekamen sie ein viel besseres Bild von mir als Person, als es mit Alkohol möglich gewesen wäre. Ich fragte mich, was ich früher in meinem Liebesleben wohl sonst noch so alles falsch gemacht hatte, und warf einen kritischen Blick auf meine Ex-Beziehungen.
Mir wurde klar, dass bei meinem bisherigen Dating-Verhalten – lange Nächte mit Drinks, Abendessen, Dessert und weiteren Drinks – zwar jede Menge Funken geflogen waren, aber nie echte Intimität entstanden war. Ich war mir nicht mal, wie die aussehen sollte. Ich wusste nur: Ich wollte wissen, wie es sich anfühlte, von jemandem wirklich gekannt zu werden.
Sechs Monate nach meinem letzten Drink stürzte ich mich wieder ins Online-Dating. Inzwischen hatte ich nicht mehr das Gefühl, mich für meinen Alkoholverzicht rechtfertigen zu müssen; ich schrieb sogar einen Witz darüber in mein Dating-Profil, eine nüchterne Veganerin zu sein (günstiges Date und so). Wenn ich danach gefragt wurde, wieso ich denn nicht trank, erzählte ich einfach, was ich seit meinem Verzicht so alles über mich gelernt habe. Wir sprachen darüber, wie viel ich jetzt schrieb und wie gut meine Marathon-Trainings inzwischen liefen. Indem ich die Gespräche in die Richtung dessen lenkte, was ich durch den Verzicht hinzugewonnen hatte, fühlte ich mich nicht mehr dazu gezwungen, darüber zu sprechen, was ich verloren hatte.
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Dating ohne Alkohol war aber in mehr als nur einer Hinsicht ernüchternd. Mir war schon ab dem ersten Date klar, ob ich eine Person mochte oder nicht. Meine Gefühle waren nicht mehr betäubt; mein Gegenüber verschwamm nicht mehr vor meinen Augen in der sexy Dunkelheit einer spärlich belichteten Bar.
Und oh Gott, war das peinlich.
Einige Dates waren ziemlich schlimm. Ein Spaziergang mit einem Wildtier-Fotografen wurde zu einer Vogelbeobachtung (obwohl ich Angst vor Vögeln habe). Beim Kaffee mit einem Tantra-Lehrer schämte ich mich, als er im vollen Café lautstark diverse Körperteile benannte.
Noch ernüchternder war aber die Erkenntnis, dass ich bisher immer alles falschrum gemacht hatte. Als ich noch Alkohol trank, ging es mir beim Dating immer nur darum, mein Gegenüber dazu zu bringen, mich zu mögen. Nach ein paar Monaten wurde mir dann aber zwangsläufig bewusst, dass ich mein Gegenüber gar nicht mochte.
Dating ohne Alkohol verkürzte diese Bedenkzeit von zwei Monaten auf nur zwei Stunden. Im Laufe eines gemeinsamen Abendessens spürte ich deutlich, ob ich mich dabei belebt oder eher leblos fühlte. Ich werde nie das erste Date vergessen, bei dem ich merkte, dass ich keinen Spaß hatte. Mein Date hatte mir über zwei Stunden hinweg keine einzige Frage gestellt. Als er aufs Klo verschwand, richtete ich mich auf meinem Stuhl auf. Mir war gar nicht aufgefallen, wie lange ich den Atem angehalten und krumm dagesessen hatte.
„Ich habe keinen Spaß“, dachte ich beim Ausatmen – und fing breit an zu grinsen. „Ich habe keinen Spaß!“ Ich wollte aufspringen und die Worte laut durchs Restaurant brüllen, weil mich diese Erkenntnis so glücklich machte.
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Ich musste hier nicht sitzen. Niemand hatte mich zu diesem Date gezwungen. Er musste mich nicht mögen. Ich konnte einfach… gehen. Seine Meinung von mir würde mein Selbstbild nicht verändern. Ich war ihm überhaupt nichts schuldig. Die Zeit, die ich hier als Pseudo-Therapeutin eines Fremden verschwendet hatte, hätte ich stattdessen mit Freund:innen verbringen können. Oder mit Zeichnen. Oder mit Schlafen. Mit allem. Ich begriff: Ich hatte keine Lust mehr darauf, Leute zu daten, die ich erst von mir überzeugen musste.
Schon seit meiner Kindheit versuche ich immer, es allen recht zu machen und von allen gemacht zu werden. Der bewusste Verzicht auf den Alkohol war mein erster Bruch mit einer gesellschaftlichen Norm gewesen. Ich hatte eine Grenze gezogen, und ich musste jetzt darauf vertrauen, dass meine Liebsten das verstehen würden – und die, die es nicht taten, waren mir eh egal. Mich würde nicht jeder mögen, aber ich würde mich selbst mögen.
Meine Dating-Pause erlaubte mir herauszufinden, wer ich eigentlich war, wenn ich nicht gerade versuchte, wie alle anderen zu sein. Als ich dann doch wieder mit dem Dating anfing, hatte ich einen viel klareren Blick auf mein Umfeld als zuvor. Ich war nicht mehr darauf angewiesen, von anderen Leuten gesehen zu werden, um mich selbst zu sehen.
Ich hatte außerdem nicht damit gerechnet, dass nüchternes Dating so viel Spaß macht. Ja, schlechte Dates sind umso schlechter, aber die guten sind einfach besser, als ich je erlebt habe. Bei einem Date fiel ich wortwörtlich vor Lachen vom Stuhl. Bei einem anderen blieben wir bis 6 Uhr morgens wach, quatschten und tranken Tee. Jede Entscheidung, um eine Beziehung zu vertiefen, treffe ich heute aus tiefstem Herzen – anstatt mich von einem verschwommenen „Vielleicht“ leiten zu lassen.
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Alkoholfreies Dating hat mir gezeigt, was echte Intimität bedeutet. Es stellt sich heraus, dass Intimität nicht immer sexy ist; ich habe sie in schwierigen Gesprächen und zahlreichen Tränen entdeckt. Sie baut sich langsam auf – auf Millionen von kleinen, mutigen Momente. Auf wichtigen, nüchternen Worten.
Obwohl mein Liebesleben jetzt vielleicht nicht mehr das spektakuläre Feuerwerk ist, dass es mal war, erfüllen mich die ehrlichen Gespräche heute mit einer ganz anderen Wärme. Ich bin nicht mehr so unruhig und verwirrt. Ich tue nicht mehr so, als sei ich supercool und hätte überhaupt keine Ansprüche. Ich spiele keine Spielchen mehr, nur um von jemandem gewollt zu werden. Stattdessen ziehe ich Grenzen und drücke meine Gefühle aus.
Diese Intimität habe ich nicht nur mit anderen Menschen gefunden, sondern auch in mir selbst. Ich genieße es, allein zu sein, und bin stolz auf die Person, zu der ich werde. Es stellt sich heraus, dass das, was ich in anderen gesucht habe, schon immer tief in mir selbst schlummerte. Das konnte ich aber nur durchs Alleinsein und die alkoholfreie Klarheit erkennen.
Ich habe immer an den falschen Orten nach Liebe gesucht. Anstatt eine überfüllte Bar nach meinem Seelenverwandten zu durchkämmen, hätte ich mich einfach mal alleine in ein Zimmer setzen und mich selbst so richtig kennenlernen sollen.
Keine Frage: Alkohol verstärkte meine Chemie mit anderen, aber Nüchternheit hat Intimität geschaffen. Und die ist mir bei Weitem lieber.
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