Ich bin über 30. Die meisten meiner Freund:innen sind in der gleichen Altersgruppe wie ich. Es gibt da einen Kommentar, den wir alle sehr oft zu hören bekommen: „Du siehst nicht so alt aus, wie du bist.“ Oft folgt dann eine Erklärung à la: „Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass du den ‚30er-Meilenstein‘ bereits überschritten hast.“ Diese Bemerkungen sind immer als Kompliment gedacht – und so nehmen wir es auch auf –, aber die meisten von uns fragen sich danach dennoch immer: „Ist das wirklich der Fall? Und ist es wirklich etwas Schlimmes, so alt auszusehen, wie wir eben sind?“
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Heutzutage herrscht die allgemeine Überzeugung, dass es mit 30 bergab geht. Wenn die Uhr am 365. Tag unseres 29. Lebensjahres Mitternacht schlägt, verwandeln wir uns demnach in alte Schrullen aus einem Disney-Film. – Natürlich ist das in Wirklichkeit nicht so. Was hat es also mit dieser Einstellung auf sich? Kommen 30-Jährige heutzutage wirklich jünger rüber oder haben wir alle einfach vergessen, wie Leute in ihren 30ern aussehen?
„Kleine Eingriffe“ sind hoch im Kurs
Die Fortschritte in der Schönheitsbranche und den sozialen Medien (insbesondere Filter und Bearbeitungs-Apps) könnten etwas mit diesem Phänomen zu tun haben. Dr. Ana Mansouri, ästhetische Ärztin bei Kat & Co, erklärt, dass es immer schwieriger wird, das Alter von Patient:innen einzuschätzen. Und warum? Verjüngende Eingriffe sind heutzutage beliebter denn je. Denk nur an das brandneue Fadenlifting (Threading), das die Ergebnisse einer Gesichtsstraffung, einer Nasenkorrektur und einer Lippenvergrößerung ohne Ausfallzeiten nachahmt, oder daran, wie besessen User auf TikTok von Stirn-Fillern zu sein scheinen. Die Beliebtheit dieses Verfahrens (und vieler anderer Methoden) ist angesichts des „Zoom-Boom“-Phänomens angestiegen. Der Grund: Wegen der Pandemie mussten wir viel mehr Videoanrufe führen als sonst, durch die wir uns feiner Linien, Falten und Pigmentflecken bewusst geworden sind. Diese Umstände haben uns alle deutlich unsicherer gemacht. Sogar das Selbstbewusstsein der selbstsichersten Personen unter uns ist im Zuge der Lockdowns ins Wackeln geraten.
„Manche Patient:innen sehen dank Injektionen und medizinischer Tricks zehn Jahre jünger aus, als sie tatsächlich sind“, sagt Dr. Ana, die neben anderen Hautbehandlungen auch solche mit Dermal Fillern und mit Injektionsmitteln gegen Falten und zum Boosten der Haut durchführt. Dr. Jonquille Chantrey, Anti-Aging-Expertin und Gründerin von One Aesthetic Studio, fügt hinzu: „Es ist kein neues Phänomen, dass Frauen nach ihrem Aussehen und Alter beurteilt werden. Das kann Unsicherheiten verursachen. Die Zugänglichkeit und Normalisierung von Anti-Aging-Behandlungen (vor allem durch die sozialen Medien) haben sich erheblich auf die Erwartungen ausgewirkt, wie eine Frau in ihren 30ern aussehen ‚sollte‘. Ästhetische Eingriffe können sich aber sehr positiv auf das Selbstwertgefühl und das Selbstvertrauen auswirken. “
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Zara, 32, glaubt, dass solche Treatments und Injektionsmittel ein Grund dafür sein könnten, warum sie oft jünger geschätzt wird. Sie sagt, sie werde regelmäßig für fünf Jahre jünger gehalten. „Seit ich 30 Jahre alt bin, lasse ich mir Botox und Filler spritzen“, erzählt sie mir. „Damals bemerkte ich zum ersten Mal feine Linien, durch UV-Strahlen bedingte Hautschäden und Augenringe in meinem Gesicht. Auch meine Lippen sahen plötzlich dünner aus, was ich als unangenehm empfand. Leute schätzen mich oft jünger ein. Diese Behandlungen zahlen sich also aus.“ Zara sagt, dass ihre 24-jährige Schwester auch schon auf Filler und vorbeugendes Botox setzt. „Durch diese Eingriffe wird unser Altersunterschied immer weniger sichtbar.“ Das Gleiche gilt laut Zara allerdings auch für den umgekehrten Fall: Viele jüngere Mädchen wirken durch ästhetische Behandlungen wie z. B. Lippen- und Wangen-Filler älter. „Ich glaube, dass das einer der Gründe ist, warum es heutzutage schwieriger ist, das Alter einer Person zu erraten“, sagt sie.
Der Instagram-Effekt
Dr. Ana glaubt, dass Apps, die das Teilen von Videos und Fotos ermöglichen, einen Einfluss darauf haben können, wie wir den Alterungsprozess wahrnehmen. „Die extreme ‚Bearbeitungskultur‘, die in den sozialen Medien vorzufinden ist, hat dazu geführt, dass sich sowohl Patient:innen als auch einige Ärzt:innen unter Druck gesetzt fühlen, unrealistische und dramatische Anti-Aging-Ergebnisse zu erzielen“, sagt sie. Bearbeitungs-Apps und Filter verwischen buchstäblich die Grenzen zwischen dem digitalen Leben und der realen Welt. Da wir unser Leben zunehmend online verbringen, beeinflusst dieser Faktor zweifelsfrei unsere Einstellung zum Älterwerden.
Anscheinend verwendet TikTok automatisch Filter und verändert die Gesichtsform (ob du es willst oder nicht), während Instagram und Zoom die Haut glätten und deine Gesichtszüge optimieren können. Es wurde auch berichtet, dass bestimmte Handykameras die Haut von selbst mit Airbrush bearbeiten. Wir wissen mittlerweile, dass solche veränderten Fotos die psychische Gesundheit und das Selbstwertgefühl beeinträchtigen können. Dieser Punkt wird nun auch als Teil der Designrichtlinien für Geräte von Tech-Giganten erwähnt.
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Heutzutage ist es dank technologischer Innovationen einfacher denn je, zu sehen, wie wir aussehen könnten, wenn wir die ganz normalen Spuren des Alterns aus unseren Gesichtern wegzaubern könnten. In gewisser Weise führen diese „Fortschritte“ dazu, dass wir den Bezug zu unserem wahren Aussehen verloren haben. Vielleicht liegt das Problem aber auch darin, dass sie einen unrealistischen Maßstab fürs Altern setzen. Wenn jede Aufnahme bearbeitet wird, ohne dass wir uns dessen bewusst sind, ist es kein Wunder, dass viele von uns nicht mehr wissen, wie Älterwerden wirklich aussieht. Die Lockdowns, während derer wir hauptsächlich über Zoom und FaceTime zu sehen waren, haben ihren Teil zu dieser Entwicklung beigetragen. Wissen wir wirklich, wie eine Person in unserem Alter aussieht, wenn wir sie nicht in natura sehen?
Fortschritte im Bereich der Hautpflege
Wenn es um das Einkaufen von Beauty-Produkten geht, soll der weltweite Markt für Anti-Aging-Produkte bis 2030 die enorme Summe von 355 Milliarden Euro wert sein. Der Wunsch nach jungem Aussehen stellt für unzählige Brands ein lukratives Geschäft dar. Obwohl es Versuche gegeben hat, den Begriff „Anti-Aging“ aus der Welt zu schaffen, weil er eine völlig natürliche Entwicklung in ein negatives Licht rückt, ist diese Art von Hautpflege beliebter denn je. Aus diesem Grund verspricht No7 zum Beispiel „dem Alterungsprozess die Stirn zu bieten“, anstatt von Anti Aging zu sprechen. Außerdem setzen Marken bei der Herstellung von Hautpflegeprodukten jetzt zunehmend auf Inhaltsstoffe, die Botox imitieren, wie etwa Wachstumsfaktoren der Epidermis (EGF).
Es wird sogar berichtet, dass junge Erwachsene über vorzeitige Alterung nachdenken und sich Gedanken darüber machen, wie sie Linien, Falten und Pigmentierung verhindern oder entgegenwirken können. Auf TikTok zeigen Teenies ihre Hautpflegeroutinen, die sich auf die Verwendung von Anti-Aging-Wirkstoffen wie Säuren und Antioxidantien wie Vitamin C konzentrieren, lange bevor überhaupt irgendwelche Anzeichen der Hautalterung sichtbar sind. Dank Brands wie The Inkey List und The Ordinary ist großartige Hautpflege zugänglicher als je zuvor. Zusammen mit der zunehmenden Popularität vorbeugender ästhetischer Behandlungen wird klar, dass viele von uns die verräterischen Spuren der Hautalterung hinauszögern wollen. Vielleicht sehen heutige 30-Jährige deshalb tatsächlich ein wenig jünger aus als noch die aus früheren Generationen. Außerdem haben sich unsere Hautpflegegewohnheiten im Laufe der Zeit zum Positiven verändert.
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Dr. Ana betont, wie wichtig uns heutzutage täglicher Sonnenschutz (nicht nur in den Sommermonaten) ist, um der vorzeitigen Alterung durch UV-Licht, Umweltverschmutzung und andere Umweltfaktoren entgegenzuwirken. „Im Allgemeinen haben sich unsere Lebensstile verbessert“, sagt Dr. Ana. Das Bewusstsein für die Auswirkungen von Sonneneinstrahlung und der Nutzung von Solarien ist höher, ganz zu schweigen vom Rauchen und dem Konsum von Alkohol. „Patient:innen werden proaktiver und erkennen, dass Vorsicht besser als Nachsicht ist“, sagt sie. „Ein gesunder Lebensstil und eine aktive Hautpflege in Kombination mit kleinen Hilfsmitteln wie Profhilo und ‚Baby-Botox‘ sind die beliebtesten Methoden, um den Alterungsprozess bei Menschen dieser Altersgruppe zu verlangsamen“, fügt sie hinzu.
Es gibt zahlreiche Faktoren, die sich auf das Aussehen unserer Haut auswirken können. Dazu gehören: dein Lebensstil, ob du die Möglichkeit hast, ästhetische Behandlungen in Anspruch zu nehmen, und vor allem dein Hormonhaushalt und deine Gene – Dinge, auf die wir meist keinen Einfluss haben. Laura wirft eine wichtige Frage auf: „Wie sieht jemand mit 30, 35, 40, etc. eigentlich aus? Jeder Mensch ist schließlich anders. Warum ist es erstrebenswert, jünger als 30 auszusehen?“ Dieser Druck, ein jugendliches Aussehen beizubehalten, ist nicht ohne – gelinde gesagt. Die Londoner Dermatologin Dr. Zena Willsmore teilte kürzlich auf Instagram ihre Frustration darüber mit, dass Frauen das Gefühl haben, ihr Alter verheimlichen zu müssen. „Vor Kurzem fragte meine kleine Tochter eine Freundin von mir, wie alt sie denn sei. Daraufhin brach im Raum Gekichere aus: ‚Oh, du solltest eine Frau niemals nach ihrem Alter fragen‘“, schrieb Dr. Willsmore in der Caption auf Instagram. „Die Vorstellung, dass Frauen ihr Alter geheim halten, untermauert die Idee, dass wir ab einem bestimmten Alter in ästhetischer und funktionaler Sicht überflüssig werden. Sie suggeriert, dass unser gesellschaftlicher Wert ein Verfallsdatum hat.“
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An dieser Stelle ist es wichtig zu betonen, dass es einen Unterschied zwischen Männern und Frauen gibt. Amara, 31, hat festgestellt, dass Leute anders über ihr Alter sprechen als über das ihres Partners. Sie ist sich nicht sicher, ob das an Beziehungsstereotypen liegt (typischerweise ein älterer Mann mit einer jüngeren Frau) oder an der Tatsache, dass sie eine Schwarze Frau ist. „Alle denken immer, mein Partner sei älter als ich“, sagt Amara. „Tatsächlich ist er aber ein paar Jahre jünger. Als Teenager hasste ich es, jung auszusehen. Jetzt bin ich aber mit meinem Aussehen zufrieden. Vor ein paar Monaten wurde ich nach meinem Ausweis gefragt, als ich Alkohol kaufen wollte. Das habe ich, glaube ich, meinem Melaninspiegel zu verdanken.“ Amara hat noch keine Eingriffe vornehmen lassen, aber sie wäre ihnen nicht abgeneigt, vor allem, wenn sie älter aussähe, als sie es tatsächlich ist und mit ihrem Aussehen unzufrieden wäre.
Selbstbewusstseinsprobleme
Wie Laura bereits erwähnte, wirkt es sich auf das Selbstwertgefühl aus, wenn uns ständig vermittelt wird, dass jugendliches Aussehen das Nonplusultra sei. Das zeigt sich bereits auf TikTok, wo sich ein besorgniserregender Trend abzeichnet, bei dem Frauen wegen ihres Aussehens belästigt werden. Interessanterweise werden viele dieser Kommentare von anderen Frauen gepostet. Da „alt aussehen“ als negativ empfunden wird, ist Altern zu einer weiteren Möglichkeit geworden, Frauen online herunterzumachen.
Es ist ziemlich frustrierend, dass so oder so über Frauen gerichtet wird – egal, ob sie in Würde altern oder sich durch kosmetische Behandlungen und/oder ästhetische Eingriffe ein jugendlicheres Aussehen verschaffen. Die vielen Kommentare unter Madonnas Instagram-Posts beweisen das. „Du siehst nicht mehr so aus wie früher: Warum hast du Angst vor dem Altern?“, kommentierte ein Instagram-User, während ein anderer meinte: „Du wärst viel, viel hübscher, wenn du deine Falten und dein Alter akzeptieren würdest. Mit diesem Plastikgesicht siehst du nicht gut aus…“. Druck gibt es von allen Seiten – sei es die Bestätigung, dass es besser sei, jünger als 30 auszusehen, oder negative Kommentare, dass man etwas machen lassen sollte.
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Dennoch glaubt Dr. Willsmore, dass die sozialen Medien eine positive Kraft in diesem Zusammenhang sein können, wenn es darum geht, den Alterungsprozess zu akzeptieren. „Vielleicht sehe ich die ganze Sache optimistisch, aber ich denke schon, dass sich die Sache ändert“, schrieb sie auf Instagram weiter. „Das liegt zum Teil an den sozialen Medien, die Menschen eine Plattform geben, die von konventionellen Medien vielleicht nicht gezeigt werden würden. Diese Darstellung und Sichtbarkeit von Frauen jeder Altersgruppe ist sehr wichtig für zukünftige Generationen.“
Ich möchte gerne verstehen, was bloß so beängstigend daran ist, 30 zu sein. Dr. Chantrey sagt, das kann auf Altersdiskriminierung zurückgeführt werden. „Leider ist diese Form der Ausgrenzung in unserer Gesellschaft weit verbreitet. Die Realität sieht so aus, dass durch ästhetische Eingriffe ein visueller Paradigmenwechsel in Bezug darauf stattfindet, wie eine Frau in einem bestimmten Alter auszusehen hat.“ Es ist wichtig, sich vor Augen zu führen, dass Anti-Aging-Behandlungen eine persönliche Entscheidung sind. Dr. Chantrey würde jedoch gerne eine Veränderung sehen. „Ich wünsche mir, dass Frauen in ihren 30ern mit weniger Druck auskommen und sich mehr auf ihr Wohlbefinden einlassen können. Wie Schönheitsstandards so sind, sind auch die fürs Altern völlig subjektiv.“
Wenn ich bei der Recherchearbeit zu diesem Artikel eine Sache gelernt habe, dann, dass das Thema Altern keine:n von uns wirklich kalt lässt. Das liegt an mehreren Faktoren: den sozialen Medien, der zunehmend wichtigen Rolle von Hautpflege und sogar die Konfrontation mit unserer eigenen Sterblichkeit während der Pandemie. Vielleicht haben wir den Bezug zum Älterwerden verloren, aber das ist nicht unbedingt etwas Schlechtes. Schließlich steckt die Schönheitsbranche in Bezug auf hochaktuelle Hautpflegestoffe und neue Verfahren gerade erst in ihren Kinderschuhen. Das Wichtigste ist, dass du dich in deiner Haut wohlfühlst. Egal, ob du nun fürs langsame Altern bist, dich über deine Lachfalten freust oder sie weglasern lassen willst – das ist ganz alleine dir überlassen.
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