Mein Bruder und ich haben heute eine Stunde lang telefoniert; die meiste Zeit davon erzählte ich ihm von all den positiven Eigenschaften meines neuen Freundes. Er ist leidenschaftlich und mitfühlend. Arbeitet hart. Zeigt seine Gefühle und ist geduldig mit meinen. Lustig und sehr positiv eingestellt. Natürlich hatte ich auch immer Beispiele parat, um jede dieser Aussagen zu untermauern – deshalb war unser Telefonat auch so lang.
„Er scheint ein richtiger Fang zu sein“, antwortete mir mein Bruder. „Wann lernen wir ihn denn mal kennen?“
Hmm.... Wahrscheinlich erst, nachdem ich ihn das erste Mal treffe?
Das habe ich ihm aber nur in meinen Gedanken geantwortet, denn die Wahrheit auszusprechen, machte mich etwas verlegen: Ich date jemanden, den ich noch nie zuvor IRL getroffen habe. Und wenn ich sage: „Wir daten“, dann meine ich nicht nur ein paar FaceTime-Calls hier und da. Wir sind in einer Beziehung und geben uns sogar Kosenamen.
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Ich bin seit zwei Jahren Single. In dieser Zeit hatte ich eigentlich immer etwas mit Männern am Laufen. Nach drei Wochen mit – nennen wir ihn Tom (er heißt definitiv nicht Tom!) – war mir aber klar, dass ich mich für die anderen nicht mehr interessierte. Einem Mann, mit dem ich schon einige Zeit Kontakt hatte, schrieb ich daraufhin eine Nachricht, in der ich erklärte, dass ich Gefühle für jemanden entwickelt habe und dass ich es unfair fände, weiterhin mit ihm zu flirten. Ich überraschte mich selbst mit dieser Einstellung, denn normalerweise legte ich meinen Fokus nicht nur komplett auf eine Person. Als ich Tom erzählte, dass ich den Kontakt zu anderen Männern abgebrochen habe, war seine Antwort: „Oh, das habe ich schon vor zwei Wochen getan.“
Kurze Anmerkung: Als ich dem anderen Mann von Tom erzählte, war er wirklich glücklich für mich. Er meinte zu mir, ich solle mir so etwas sicher nicht entgehen lassen, und wir könnten uns ja einfach auf freundschaftlicher Basis weiter kennenlernen – ein Hoch auf die Ehrlichkeit!
Aber zurück zu Tom: Wir arbeiten in ähnlichen Branchen und haben gemeinsame Freunde. Deshalb folgen wir uns gegenseitig schon länger auf Insta. Ich weiß nicht, ob ich es mir nur eingebildet habe, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, seine Posts tauchten immer öfter in meinem Feed auf. Ich kann dir auch nicht genau sagen, wann ich anfing, absichtlich einen Blick auf seinen Account zu werfen. Im Laufe der Zeit fand ich heraus, dass er bald nach New York City ziehen wollte (in die Stadt, in der ich auch wohne) und davor noch eine Woche lang durch Europa reisen würde. Doch während er im Ausland war, kam Corona. Und wir hatten von da an täglich Kontakt zueinander. Ich kann mich nicht genau an die Zeitspanne erinnern; vielleicht liegt es daran, dass alles so natürlich zwischen uns ablief. Zwischen uns gab es keine Dating-Strategien oder allgemein gültige Regeln. Ich fühlte mich mit ihm, wie ich es vielleicht seit der Beziehung in meinen späten 20ern, die fast in einer Ehe endete, gefühlt habe.
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Tom schaffte es zurück in die Staaten und bleibt seitdem im Haus seines Vaters – am anderen Ende des Landes. Wir sprechen morgens und abends und den ganzen Tag über. Wir haben uns gegenseitig Pakete geschickt. Wir supporten gegenseitig unsere Arbeit auf Social Media. Wir haben unseren gemeinsamen Freunden von “uns“ erzählt. Ist das verrückt?
„Ich denke, es wäre verrückt, dieser Beziehung keine Chance zu geben“, sagte mir meine beste Freundin. Das Dating-Leben vor Corona (Dating-Apps, Blinddates und so weiter) sei viel seltsamer als alles, was ich mit Tom erlebe, sagte sie. „Wir verbiegen uns und geben uns so viel Mühe, nur damit wir eine Chance auf eine echte Verbindung haben. Da ist es doch schön zu sehen, dass so etwas auch mal unerwartet geschehen kann.“
Ich habe Tage gebraucht, bis ich endlich mit diesem Beitrag fertig war, weil ich immer wieder von Toms Sprachnachrichten abgelenkt wurde. In denen beschrieb er immer unsere gemeinsame Zukunft: Wir werden zusammen große Dinnerpartys veranstalten. Wir machen uns leckere Escabeche: „Blumenkohl, Karotten, Zwiebeln, Jalapeño, braten und heiß einlegen! Alles in Gläser verpackt und als Mitbringsel für unsere Gäste.“ Wir werden Spaziergänge über die Brücke, nach Chinatown machen und Wantans essen. „Ich meine, verdammt, ich kann es kaum erwarten, mit dir einfach… in den Supermarkt zu gehen.“ Wir reden so viel… Wenn wir uns sehen, werden wir wahrscheinlich nicht die Hände voneinander lassen können.
Und da sind wir auch schon beim nächsten Thema: Anfassen ist in unserer Beziehung so wie sie gerade ist, einfach nicht möglich.
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Menschen sind soziale Wesen. Berührungen aktivieren einen Teil des Gehirns und setzen Oxytocin, das so genannte Liebeshormon, frei. Umarmungen reduzieren das Stressniveau und helfen uns letztlich sogar, Infektionen zu bekämpfen. Wie seltsam, dass das, was uns normalerweise gesund hält, das ist, was uns im Moment schaden könnte.
Sobald es sicher ist, werde ich Tom aber auch körperlich näher kommen. Wenn ich nur daran denke, bin ich so aufgeregt wie ein Teenie, das sich auf den ersten Kuss vorbereitet. Aber wir sind erwachsen. Ich kenne seine Wünsche, seine Sorgen, seine Familiengeschichte, die guten und die schlechten Dinge, die ihm im Leben passiert sind. Ich möchte mit Tom intim werden, weil ich ihm dafür danken möchte, dass er das alles mit mir geteilt hat und die Dinge, die ich mit ihm geteilt habe, urteilsfrei aufgenommen hat. Ich mit ihm intim werden, weil ich ihm zeigen möchte, was ich für ihn empfinde. Ich habe Sex schon lange nicht mehr auf diese Weise gesehen. (Fürs Protokoll: Ich will das alles aber auch, weil er verdammt sexy ist).
Was gerade in der Welt passiert, ist schrecklich; ich bete, dass wir so etwas nie wieder durchmachen müssen. Für alle von uns, die das Privileg haben, sicher zu Hause zu sein, ist diese Zeit aber auch eine einzigartige Gelegenheit, sich über das eigene Leben bewusst zu werden. Ich hatte schon längst vergessen, wie schön sich Liebe und Romantik anfühlen können. Durch diese Beziehung (so intensiv und doch ohne körperliche Berührung) wurde ich auf eine sehr menschliche, sehr reale Art daran erinnert, dass wir es verdienen, einander nahe zu sein.
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Also, ja. Ich date jemanden, den ich noch nie zuvor getroffen habe – und ich verliebe mich in ihn. Wie kann ich darauf vertrauen, dass es was zwischen uns wird? Geht die Liebe immer mit einer gewissen Unsicherheit einher, selbst wenn nicht gerade eine globale Pandemie alles verzerrt?
Neulich habe ich einige dieser Bedenken mit Tom besprochen (weil ich mit ihm auch über solche Dinge reden kann). Was, wenn die Chemie tatsächlich nicht im echten Leben da ist? Was, wenn die Welt irgendwann wieder ihren gewohnten Gang geht und wir feststellen, dass unser Alltag das, was wir in unserer kleinen Blase aufgebaut haben, aufrechterhalten kann?
„Möglich“, sagte er und erklärte, dass er meine Ängste verstehe. „Meiner Meinung nach aber nicht wahrscheinlich. Und ich frage mich… Warum sollten wir uns etwas so Wunderbares verwehren, das so natürlich passiert ist?“
Wo er recht hat...
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